Ein weiser Film, der ohne Umweg direkt ins Herz trifft
Von Christoph PetersenAls „Ein leichtes Mädchen“ im Mai 2019 in einer Nebenreihe beim Filmfestival in Cannes seine Weltpremiere feierte, spaltete der sommerliche Coming-of-Age-Film sein Publikum. Rebecca Zlotowski war einmal mehr mit ihrer freiheitsbejahenden Form des Feminismus angeeckt. Die konkrete Haltung der Autorin und Regisseurin blieb weiterhin ähnlich undurchschaubar wie ihre Titelfigur, die im sonnigen Cannes zwar mit reichen Yachtbesitzern im Tausch für Luxus anbandelt, deshalb aber trotzdem nicht (zumindest nicht von der Regisseurin!) moralisch beurteilt wird. Das war bisher stets das Aufregende am Kino der französischen Auteur-Außenseiterin!
Wer von „Other People’s Children“ nun einen weiteren „typischen Zlotowski“ erwartet, wird allerdings enttäuscht – nur macht das gar nichts, weil die Regisseurin stattdessen einen auf ganz andere Art herausragenden Film abliefert. Statt das Publikum erneut in zwei Lager zu spalten, wird sich „Other People’s Children“ kaum jemand entziehen können, dafür ist das Patchwork-Drama viel zu präzise beobachtet und empathisch erzählt. Von der einmal mehr grandiosen Virginie Efira („Warten auf Bojangles“) in der Rolle einer Frau, die sich der Tochter ihres Freundes zwar extrem verbunden fühlt, aber dennoch nie ihre „echte“ Mutter sein wird, mal ganz zu schweigen.
Als Rachel (Virginie Efira) beim Gitarrenunterricht Ali (Roschdy Zem) kennenlernt, ist es sofort um sie geschehen …
Als sich die Lehrerin Rachel (Virginie Efira) in den von seiner Ex-Frau Alice (Chiara Mastroianni) geschiedenen Auto-Designer Ali (Roschdy Zem) verliebt, macht sie sich wegen dessen fünfjähriger Tochter Leila (Callie Ferreira-Goncalves) zunächst nicht viele Gedanken. Aber irgendwann steht das erste Treffen eben doch an – und nach einigen ersten Anlaufschwierigkeiten inklusive einer splitterfasernackten Flucht auf den Balkon fühlt sich Rachel irgendwann fast wie die Mutter der Kleinen.
Aber eben auch nur „fast“. Immer wieder gibt es kleine Momente, die ihr schmerzhaft vor Augen führen, dass sie eben doch nicht die leibliche Mutter ist – etwa wenn Leila nach einem besonders schönen Urlaubswochenende mit Rachel und ihrem Vater trotzdem nachdrücklich nach ihrer Mama verlangt. Zugleich sieht sich auch Rachel selbst unter Zugzwang, nachdem ihr Frauenarzt (gespielt vom legendären Dokumentarfilmer Frederick Wiseman) ihr mitgeteilt hat, dass sie womöglich nur noch wenige Monate hat, um selbst schwanger zu werden…
Rebecca Zlotowski offenbart einen extrem klaren Blick auf ihr Sujet, das sie mit subtil-präzisen und gerade deshalb so kraftvollen Beobachtungen auf den Punkt bringt: Selbst wenn Rachel Leila zum Judotraining oder ins Bett bringt – die letzte Verantwortung tragen immer Ali und Alice. Das Verhältnis zum Kind des Freundes kling simpel und ist doch unendlich kompliziert. Es gibt wohl keine vergleichbare Beziehung, die dermaßen tief gehen kann und über die man selbst dennoch so wenig Kontrolle hat – schließlich ist mit dem Beziehungsende plötzlich auch das Kind, um das man sich eben noch gekümmert hat wie um sein eigenes, aus dem Leben verschwunden.
Freude und Leid liegen da unheimlich nah beieinander – und so nimmt „Other People’s Children“ nicht nur Rachel, sondern auch das Publikum mit auf eine emotionale Achterbahnfahrt, für die es keine großen Ausbrüche, sondern nur kleine Gesten braucht: Die fast schon unschuldige Frage von Leila, warum die Freundin des Vaters eigentlich nimmer mit in der Wohnung sei, reicht da schon, um Rachel und mit ihr den Zuschauer*innen kurzzeitig den Boden unter den Füßen wegzuziehen. Aber wenn sie dann ein Familienbild malt, in dem nicht nur Alice, sondern auch Rachel einen Platz findet, fühlt man mit, dass das einer der schönsten Augenblicke ihres Lebens sein muss.
… und auch Alis vierjähriger Tochter Leila (Callie Ferreira-Goncalves) schließt Rachel schnell ins Herz.
Es ist ja völlig normal, dass Kinder aus Wut sagen, dass sie Mama oder Papa gerade total doof finden – und dann ist das meist auch schnell wieder vergessen. Aber wenn einem wie Rachel als Freundin des Vaters dieses Selbstverständnis ganz einfach fehlt, dann wird es plötzlich unheimlich schwierig, mit solchen kindlichen Zurückweisungen umzugehen – und Zlotowski beweist in ihrem Skript und ihrer Inszenierung ein gespenstisch-gutes Gespür für solche beiläufigen, aber für die Beteiligten unglaublich bedeutsamen Feinheiten.
„Other People’s Children“ ist voll von solchen Momenten – und deshalb braucht es auch keine „Bösewichte“ in dieser Geschichte. Selbst im herzzerreißenden Finale, wo in der Hollywood-Version sicherlich jemandem der schwarze Peter zugeschoben worden wäre, benehmen sich alle wie empathische Erwachsene – und selbst die weibliche Solidarität zwischen Rachel und Alice, die sich auf Anhieb gut verstehen, bleibt selbst dann, wenn die meisten anderen Filme schon auf eifersüchtigen Catfight-Modus geschaltet hätten, ungebrochen.
„Other People’s Children“ ist eben einfach ein ungemein erwachsener Film, der keine billigen Taschenspielertricks, sondern nur das wahre Leben braucht, um uns auf berührende, ehrliche und sich niemals im Schmerz suhlende Weise mitleiden zu lassen…
Fazit: „Other People’s Children“ ist weniger herausfordernd als frühere Werke von Rebecca Zlotowski, aber dafür umso weiser und berührender. Ein Film der kleinen, ganz genauen Beobachtungen, die einen ganz unmittelbar ins Herz treffen…
Wir haben „Other People’s Children“ beim Filmfest in Venedig gesehen, wo er als Teil des Offiziellen Wettbewerbs seine Weltpremiere gefeiert hat.