Ein ungewöhnliches Biopic über eine ungewöhnliche Frau
Von Gaby SikorskiDie Ärztin, Wissenschaftlerin und Anthropologin Maria Montessori, Jahrgang 1870, war eine der ersten Frauen, die in Italien Medizin studieren durften. Anfang des 20. Jahrhunderts revolutionierte sie die Pädagogik mit ihren Methoden einer auf Zuneigung und Aufmerksamkeit statt auf Disziplin und Gewalt aufbauenden Erziehung. Unter dem italienischen Faschismus und im deutschen Nationalsozialismus waren ihre Methoden verboten. Heute ist die Montessori-Pädagogik weltweit bekannt und anerkannt.
Deutlich weniger bekannt als ihre Erziehungskonzepte ist hingegen Maria Montessoris Privatleben: Ihr einziges Kind, Mario, stammt aus der Beziehung mit ihrem Kollegen Giuseppe Montesano, mit dem sie, ungewöhnlich für die damalige Zeit, nicht verheiratet war. Mario wuchs getrennt von seiner Mutter auf. Erst als er 15 Jahre alt war, nahm sie ihn zu sich, gab ihn aber als ihren Neffen aus, und bis sie ihn öffentlich als ihren Sohn anerkannte, sollten noch viele weitere Jahre vergehen. Der Grund war, dass sie sonst beruflich keine Chance gehabt hätte. Ein uneheliches Kind hätte für sie das Ende ihrer kaum begonnenen Karriere bedeutet.
Das Biopic „Maria Montessori“, inszeniert von Léa Todorov, erzählt von ihren ersten Berufsjahren, die geprägt sind vom Kampf um die Anerkennung ihrer Methoden und von ihren privaten Erschütterungen durch die Trennung von ihrem kleinen Sohn und die private und berufliche Beziehung zu Montesano. Die Drehbuchautorin Julie Dupeux-Harlé hat für die Darstellung dieses Lebensabschnitts eine ungewöhnliche und elegante Lösung gefunden: Sie verbindet die reale Geschichte von Maria Montessori (Jasmine Trinca) mit der ausgedachten Geschichte von Lili d’Alengy (Leïla Bekhti), einer fiktiven Edel-Kurtisane aus Paris. Beide Frauen stehen an einem Wendepunkt in ihrem Leben. Maria möchte sich von den Konventionen befreien, denen sie sich bisher brav und ohne Murren gefügt hat, um endlich ihre Visionen zu verwirklichen, aber dafür fehlen ihr die Möglichkeiten.
Die flotte Französin Lili hingegen hat eine geistig behinderte Tochter: Tina (Raffaelle Sonneville-Caby), die bei der Großmutter aufgewachsen ist und um die sich Lili nach deren Tod nun selbst kümmern muss. Sie schämt sich für die kleine Tina und bringt sie nach Rom, wo Maria Montessori mit Montesano (Raffaele Esposito) ein Heim für behinderte Kinder leitet. Dort will Lili das Mädchen am liebsten einfach abliefern. Doch daraus wird nichts, denn es ist lediglich ein Platz für die Tagespflege frei. Lili bleibt also unfreiwillig in Rom und lernt dadurch nicht nur ihre Tochter kennen und lieben, sondern sie wird Zeugin der Erfolge durch die Montessori-Methoden, durch die ihre Tochter Tina regelrecht aufblüht…
Die Frauen haben vor allem gemeinsam, dass sie Kinder haben, zu denen sie sich aus unterschiedlichen Gründen nicht öffentlich bekennen, und das bringt Maria und Lili schließlich zusammen – zwischen ihnen entwickelt sich eine Freundschaft, von der letztendlich beide profitieren: Lili erkennt, wie wichtig Zuwendung, Geduld und Liebe in der Kindererziehung sind, und Maria lässt sich von der gewieften Lili ins Selbstmarketing einführen. Dadurch findet sie zum notwendigen Selbstvertrauen, um sich in der Männerwelt der Wissenschaft durchzusetzen und endlich jene Lorbeeren zu beanspruchen, die bisher stets Montesano einheimste, und das auch noch ohne jedes schlechte Gewissen. Und nicht nur das: Er wird für seine Tätigkeit im Kinderheim bezahlt, während Maria kostenlos mitarbeitet. Für Lili ein absolutes No-Go. Sie lebt nach dem Motto: „Um frei zu sein, muss eine Frau reich sein.“ Danach wählt sie auch ihre Liebhaber aus – für romantische Gefühle ist da nicht viel Platz.
Um es ganz klar zu sagen: Die geschickte Konstruktion der beiden parallel erzählten Frauengeschichten ist neben den schauspielerischen Leistungen der Hauptdarstellerinnen das Beste an diesem Film, der letztlich die Mutterrolle stark verklärt und besonders zum Ende hin doch ziemlich offensiv in Richtung gefühliges Bekenntniskino geht. Die Story von Maria und Lili sowie ihre langsame Annäherung in einer Mischung aus realen und fiktiven Ereignissen erlaubt dabei Einblicke in die Montessori-Methoden, ohne belehrend zu wirken. Das Konzept sorgt zudem für einige angenehme Spannungsbögen, die sich aus den Verflechtungen der beiden Handlungsstränge ergeben. Klar ist: Maria und Lili kämpfen jeweils auf ihre eigene Weise gegen Konventionen und gegen die Männergesellschaft. Beide sind starke Frauen, die ihr Schicksal selbst in die Hand nehmen wollen.
Léa Todorov inszeniert die Geschichte aufwändig und in sanften Farben im Stil der Belle Époque – schon die Kostüme sind sehenswert; das gilt sogar für die Kittelchen der Heimkinder. In der zweiten Hälfte sieht es beinahe so aus, als ob die Geschichte, die prinzipiell ohne dramatische Höhepunkte auskommen muss, im Gewirr von Marias und Lilis Muttergefühlen zum Stocken kommt. Zum Ende hin wird der Film dann sehr sentimental, wenn es um Marias Visionen der Befreiung von Kindern und Frauen geht. Diese Emotionalisierung wäre gar nicht nötig, denn die beiden Hauptdarstellerinnen sind in ihren Rollen auch so durchaus überzeugend:
Jasmine Trinca, in Italien ein Star etwa durch „Das Zimmer meines Sohnes“ von Nanni Moretti, spielt Maria Montessori mit natürlicher Eleganz als zerrissene Frau, die sich erst einmal selbst befreien muss, bevor sie ihre revolutionären neuen Methoden weitergeben kann. Leïla Bekhti („Die Ruhelosen“) ist als Lili selbstbewusst und temperamentvoll, eine lebenslustige Pariserin, die es sich leisten kann, so zu leben, wie sie es mag. Aber Maria Montessori ist anders als Lili: Sie hat eine Berufung, sie hat Ehrgeiz, und dafür opfert sie ihr Privatleben. Dies einer Frau ohne Werturteil zuzubilligen, wäre vielleicht tatsächlich ein Zeichen der Emanzipation.
Fazit: Das Biopic über die große Pädagogin und Wissenschaftlerin Maria Montessori wird durch die beiden umwerfenden Hauptdarstellerinnen Jasmine Trinca und Leïla Bekhti sowie durch die geschickte Drehbuch-Konstruktion vor dem Abrutschen ins gefühlsduselige Mittelmaß bewahrt.