In diesem Netflix-Film wird immer nur nach unten getreten
Von Björn BecherMit seiner Bestselleradaption „Der weiße Tiger“ erzählte Ramin Bahrani zuletzt für Netflix eine schonungslose Aufsteigergeschichte, in der ein junger Mann in Indien sogar über Leichen geht, um der Armut zu entkommen. Als Produzent setzt Bahrani nun ebenfalls für den Streamingdienst noch einmal eine ähnliche Geschichte um: Das Thriller-Drama „7 Gefangene“ von Alex Moratto spielt zwar in einem anderen Winkel der Welt, aber in Brasilien klafft die Schere zwischen Arm und Reich ähnlich weit auseinander wie in Indien – und die einzige Chance, aus der Armut herauszukommen, besteht darin, all diejenigen auszubeuten, denen es noch schlechter geht.
Der neben Bahrani auch von „City Of God“-Regisseur Fernando Meirelles produzierte „7 Gefangene“ ist dabei nicht nur bisweilen arg formel- und oberlehrerhaft. Aber dank des starken Hauptdarstellers Christian Malheiros, der bereits für Morattos Debüt „Sócrates“ gefeiert wurde, schafft es das intensive Drama trotzdem oft genug, das Publikum mitzureißen – und so zugleich die angepeilte Wut auf die ebenso unmenschlichen wie ungerechten Zustände zu entfachen.
Mateus landet im Schrott...
Mit dem Versprechen auf ein besseres Leben lässt der 18-jährige Mateus (Christian Malheiros) seine Mama und seine Schwestern auf der trostlosen Farm im Nirgendwo zurück. In São Paulo soll er gemeinsam mit drei anderen jungen Männern auf einem Schrottplatz Geld verdienen. Doch schon bei der Ankunft verfliegt das Staunen über die Hochhäuser der Großstadt schnell, als ihre karge Unterkunft einer Gefängniszelle gleicht und der Schrottplatzbetreiber Luca (Rodrigo Santoro) nur sehr widerwillig etwas Geld für ein wenig Abendessen rausrückt. Wo sie wirklich gelandet sind, wird ihnen erst klar, als sie nach einer Woche harter Arbeit zaghaft nach der Bezahlung fragen.
Luca rechnet ihnen vor, was für Schulden sie für Unterkunft, Essen und Transport bei ihm haben, die sie in den nächsten Monaten erst einmal abarbeiten müssen. Flucht oder Gang zu den Behörden sind zwecklos, wie die nun eingesperrten und mit Waffengewalt zur Arbeit gezwungenen Jungs schnell merken. Mateus, der als einziger lesen und rechnen kann, hat die scheinbar rettende Idee: Er überzeugt seine Leidensgenossen, einfach härter zu arbeiten. Dann sei man nach sechs Monaten schuldenfrei und Luca müsse sie in die Freiheit entlassen...
Dass es dazu nicht kommt, dürfte wohl jedem außer dem naiven Quartett schon in dem Moment klar sein, in dem Mateus die Idee ausspricht. Denn er und seine Mitstreiter sind moderne Arbeitssklaven, die so lange schuften werden, bis sie irgendwann tot umfallen. Moratto und seine Co-Autorin Thayná Mantesso nehmen den wenig durchdachten Plan daher auch vor allem als Ausgangspunkt, um die zuvor so enge Gemeinschaft der jungen Brasilianer aufzusprengen. Denn wie Mateus die anderen zur Arbeit antreibt, imponiert Luca. Schnell räumt er dem jungen Mann mehr Freiheiten ein und macht ihn zum Aufseher.
Lange redet sich Mateus dabei noch selbst ein, dass er das alles nur macht, um sich und den anderen zu helfen, dass sie dann schon gemeinsam freikommen werden, wenn ihre Schulden abgetragen sind. Doch in Wahrheit wird er zu einer Art zweitem Luca, der selbst die anderen Gefangenen misshandelt. Dies muss er sich spätestens eingestehen, wenn er dazu auserkoren wird, vier weitere Arbeitssklaven auszuwählen und dann – wie der Filmtitel es schon vorgibt – insgesamt sieben Gefangene zu beaufsichtigen.
Wird Mateu zum Komplizen von Luca?
Gerade dieser innere Konflikt von Mateus ist das Herzstück des Films. Auch ohne viele Worte spürt man, wie sehr ihn die Frage beschäftigt, wie weit er sich für die vermeintlich gute Sache zum Komplizen von Luca machen kann. Aber während das innere Ringen mit den anschwellenden Schuldgefühlen stark umgesetzt ist, sind andere Momente allzu plakativ. Da verharrt etwa die Kamera lange auf dem liegengelassenen Schlüsselbund oder Lucas Pistole, während wir Mateus dabei beobachten, wie er ausführlich darüber nachdenkt, ob er die Chance zur Flucht oder zur Überwältigung des Sklaventreibers nun nutzen soll oder nicht. Künstliche Spannungsmomente aus der Klischeekiste.
Trotz dieser Schwäche ist „7 Gefangene“ ein unglaublich intensiver Film, gerade weil er zu Auseinandersetzung mit der Frage einlädt, wie man sich wohl selbst in Mateus' Rolle verhalten würde. Denn es scheint keine andere Möglichkeit zu geben, den Fängen von Luca und dessen mächtigen Hintermännern zu entkommen. Macht der junge Mann also zumindest für sich selbst alles richtig, indem er zum Komplizen wird? Ist es vielleicht seine einzige Chance, seine Kameraden aufzugeben und selbst zum Täter zu werden, um zumindest sein Leben zu retten? Solche Gedanken sind moralisch richtig unbequem und öffnen die Tür zu einer weit über den Film hinausgehenden Beschäftigung.
Schade nur, dass Regisseur Moratto zwar bei Mateus sehr komplexe Ansätze zulässt, seine Leidensgenossen jedoch auf nötige Puzzlestücke in der ethischen Versuchsanordnung mit meist nur einer einzelnen, für die Story wichtigen Charaktereigenschaft herunterbricht. Da gibt es halt den Hitzköpfigen, der urplötzlich aufbegehrt, damit er gewaltsam in die Schranken gewiesen werden kann; oder den eher Schwächelnden, an dem sich das Dilemma entfacht, ob man ihn mitziehen muss und nicht auch einfach seinem Schicksal überlassen kann.
Selbst bei der zweiten großen Rolle des Films gibt es wenig Raum für Schattierungen. Wenn der von „300“-Bösewicht Rodrigo Santoro gespielte Luca gen Ende plötzlich aus dem Nichts seine eigene Familie präsentiert, entfaltet das zum Beispiel gar nicht mehr die womöglich damit beabsichtigen Ambivalenzen. Selbst die damit verbundene Andeutung, dass Luca womöglich einmal in einer ähnlicher Lage wie Mateus war, verpufft. Zu sehr wurde die Figur zuvor einfach nur als lupenreiner und eindimensionaler Foltermeister porträtiert, um jetzt noch ein tiefergehendes Interesse zu wecken.
Fazit: „7 Gefangene“ ist ein intensives Thriller-Drama, das interessante und komplexe Fragen aufwirft, dabei aber zu oft selbst zu eindimensional und plakativ daherkommt.