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    Wild wie das Meer
    Kritik der FILMSTARTS-Redaktion
    4,0
    stark
    Wild wie das Meer

    Garantiert keine Küchenpsychologie!

    Von Thorsten Hanisch

    Chiara (Cécile de France), die seit 20 Jahren verheiratet ist und zusammen mit ihrem Mann Antoine (Grégoire Monsaingeon) auf einer kleinen Insel eine Fischerei betreibt, lässt sich auf eine leidenschaftliche Affäre mit Maxence (Félix Lefebvre), einem Auszubildenden aus reichem Hause, ein. Das geht nicht lange gut, mündet aber auch nicht in erwartbare Dramatik, im Gegenteil: „Wild wie das Meer“ kommt so nüchtern-realistisch, so unspektakulär daher, dass man es dem Film im ersten Moment fast schon vorwerfen will.

    Doch es ist gerade die runtergekochte Gangart des halbdokumentarisch inszenierten Debüts von Héloïse Pelloquet, die der großartigen Cécile de France („High Tension“) viel Raum für ihr großartiges Schauspiel gibt, das für die entsprechende Tiefenwirkung sorgt. Im Grunde kann man sagen, dass das ihr Film ist, denn die unheimlich charismatische Darstellerin ist nicht nur in fast jeder Szene zu sehen, sondern einmal mehr in absoluter Hochform.

    Die Ehe von Chiara (Cécile de France) und Antoine (Grégoire Monsaingeon) ist zwar nicht unglücklich …

    Im Grunde passiert nicht viel und wenn doch was passiert, dann so beiläufig, dass man ohne Spoiler-Gefahr die gesamte Handlung wiedergeben kann: Chiara nimmt Millionärssohn Maxence, der offenbar nicht weiß, wohin mit sich, und gerade erst eine Ausbildung abgebrochen hat, mit Skepsis im Betrieb auf. Doch der junge Mann überrascht. Die Seekrankheit steckt er locker weg, er ist geschickt, fleißig bei der Arbeit und verschafft sich so Respekt. Aber der Lehrling aus bourgeoisem Hause verfügt auch über einen beträchtlichen Charme, weshalb aus dem schnell wach gewordenen Interesse seiner Chefin spätestens bei einem Oboe-Ständchens auf einer Hochzeit echtes Begehren wird. Ein magischer Moment: Die Kamera verharrt für eine halbe Minute auf de Frances Gesicht, in dem sich dieser Wandel widerspiegelt.

    Aus dem bloßen Begehren wird mehr, doch in dem provinziellen Umfeld bleibt eine Liebelei nicht lange verborgen und so schlägt die Freundlichkeit des gesellschaftlichen Umfelds bald in Feindseligkeit um. Das führt zu einem Bruch mit Maxence, mit ihrem Mann und dementsprechend mit ihrer Umgebung – was allerdings nichts mit dem Ende der Liebe zu tun hat, denn Chiara hätte, wie sie am Ende erläutert, am liebsten beide behalten…

    Die Passagierin

    Der Originaltitel der französischen Produktion „Wild wie das Meer“ lautet „La Passagére“, was auf Deutsch übersetzt „Die Passagierin“ bedeutet. Zwar sitzt Chiara im zentralen Moment als Passagierin auf einer Fähre, aber im Titel schwingt eine gewisse, leicht sarkastische Doppeldeutigkeit mit. Maxence fungiert nämlich durchaus ebenso als „Fahrzeug“, mit dem Chiara von einer Station zur nächsten fährt. Es ist Maxence, der die betrunkene Chiara von einer Party zu einem alten Haus, das zum Verkaufen steht, lotst und dort überredet, ein im Schrank vorgefundes Kleid anzuziehen. Es ist Maxence, der Chiara dann verführt. Sie bricht ihren – ersten - Geschlechtsverkehr zwar nach nur wenigen Sekunden ab („Das ist nicht passiert, verstanden?“), doch der spitzbübische junge Kerl hat etwas in ihr ausgelöst, was die beiden wieder zusammenführen und die Fischerin zu einem neuen Lebensabschnitt bringen wird.

    Was genau, wird dabei nie so recht deutlich. Die Chemie zwischen de France und Lefebvre ist zwar absolut stimmig, die verspielt-fröhlichen Sexzenen jederzeit natürlich, aber es bleibt offen, was Chiara in Maxence eigentlich sieht, was er in ihr bewirkt. Regisseurin Pelloquet verzichtet mit Absicht auf die oft eh nur küchenpsychologischen Psychologisierungen des Genres und stellt stattdessen klar, dass Chiaras Ehe nicht unglücklich ist und sie selbst nach 20 Jahren noch Sex mit ihrem Ehemann hat.

    … und trotzdem fühlt sich Chiara unwiderstehlich zu dem jungen Maxence (Félix Lefebvre) hingezogen.

    Lediglich an einer Stelle gegen Ende, als der beste Freund ihres Mannes erläutert, dass es was anderes ist, wenn ein Mann Affären hat, als wenn eine Frau ihren Mann betrügt, wird „Wild wie das Meer“ kurz überraschend konkret, lässt eine Agenda aufblitzen. Aber ob das offenbar deutlich vom Patriarchat geprägte Umfeld der Grund für Chiaras Handeln ist, bleibt weiterhin unklar. Muss aber anderseits auch nicht erklärt werden, denn Menschen sind im echten Leben ebenfalls alles andere als offene Bücher und es ist gerade diese gewisse Rätselhaftigkeit, dieser Mut zur Leerstelle, der die grandios gespielte Figur so real und überaus reizvoll werden lässt.

    Fazit: Definitiv keine Kost für Freunde konventioneller Dramen. „Wild wie das Meer“ ist die Geschichte einer Emanzipation, die auf Psychologisierungen sowie großartige dramaturgische Zuspitzungen verzichtet und stattdessen auf eine nüchtern-realistische Herangehensweise setzt, wie aus dem Leben gegriffen wirkt und mit einer grandiosen Hauptdarstellerin auftrumpft!

     

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