270 Kilo pure Menschlichkeit
Von Christoph PetersenNachdem Darren Aronofsky („Requiem For A Dream“) bei seinem tabubrechenden Surrealismus-Schocker „mother!“ wirklich vollkommen freigedreht hat, schien es irgendwie ins Bild zu passen, als bekannt wurde, dass Ex-Blockbuster-Star Brendan Fraser („Die Mumie“) in seinem nächsten Film einen mehr als 270 Kilo schweren Mann spielen soll. Ohne sich näher mit dem Projekt zu beschäftigen, gingen einem da natürlich sofort die wildesten und krassesten Ideen durch den Kopf. Das wird doch bestimmt wieder so ein Film, der das Publikum wie „mother!“ einmal gerade in der Mitte durch spalten wird …
… aber Pustekuchen! Zwar hat der Berufs-Provokateur nicht die geringsten Hemmungen, wenn es darum geht, auch die düsteren Seiten eines solch extremen Übergewichts in Szene zu setzen – aber insgesamt nimmt sich das Regie-Enfant-terrible in „The Whale“ doch erstaunlich zurück. Samuel D. Hunter hat sein eigenes Theaterstück aus dem Jahr 2012 extrem werkgetreu für die Leinwand adaptiert – und Aronofsky macht in seinem im einengenden 4:3-Format und fast nur in einem einzigen Raum spielenden Film nicht die geringsten Anstalten, die Herkunft des Stoffes zu verschleiern.
Stattdessen überlässt er seinem herausragenden Cast die Bühne – und das weiß vor allem Brendan Fraser bei seinem Hauptrollen-Comeback für eine der besten und vor allem empathischsten Performances seit Jahren zu nutzen!
Brendan Fraser reißt die Rolle so sehr an sich, dass man seinen 270-Kilo-Fatsuit irgendwann – fast – vergisst…
„The Whale“ lief bei der Pressevorführung beim Filmfestival in Venedig gerade fünf Minuten, da gab es von der einen Hälfte des Publikums einen erstickt-erschreckten Lacher – und zwar von jener Hälfte, die sich gut genug auskennt, um den Horror hinter einem Blutdruck von 238 zu 134 zu durchschauen. Die meisten Menschen wären da längst gestorben – und auch der mehr als 270 Kilo schwere Charlie (Brendan Fraser) hat wohl maximal noch ein paar Tage zu leben. Seinen Lebensunterhalt verdient der Ex-Professor mit Online-Schreibkursen, bei denen er seinen Student*innen jedes Mal vorlügt, dass seine Webcam leider gerade kaputt sei.
„The Whale“ wird in nach den Wochentagen benannten Kapiteln erzählt. Fast täglich schaut dabei seine gute Freundin und Krankenschwester Liz (Hong Chau) nach dem rechten. Darüber hinaus besteht sein einziger zwischenmenschlicher Kontakt mit Dan vom Lieferdienst, von dem Charlie allerdings auch nur die Stimme kennt, weil er die Pizzen immer vor der Tür abstellt. Charlies größter und eigentlich auch einziger Wunsch ist es, vor seinem Tod sicherzustellen, dass es seiner Tochter Ellie (Sadie Sink) gutgehen wird. Allerdings hat er diese nicht mehr gesehen, seitdem er ihre Mutter Mary (Samantha Morton) vor acht Jahren für einen seiner Studenten verlassen hat…
Auf einer Theaterbühne lässt sich mit Fatsuit & Co. auch schon einiges erreichen. Aber das ist natürlich die eine Stelle, an der Darren Aronofsky im Vergleich zur Vorlage noch mal so richtig einen drauflegen kann: Charlie erleidet schon in der ersten Minute von „The Whale“ beim Onanieren einen Fast-Herzinfarkt – und tatsächlich sieht er mit seiner aschfahlen Haut, den strähnigen Haaren und den ständig verschwitzten T-Shirts auch so schon ungesund genug aus, da sind die fast 200 Kilogramm Übergewicht nur noch das Tüpfelchen auf dem i.
Jeder Schritt selbst mit dem Gehwagen erfordert eine höllische Anstrengung, die auch das Publikum regelrecht mitfühlen kann; ein heruntergefallener Schlüssel gerät in dieser körperlichen Verfassung gar zum unlösbaren Problem. Wenn Charlie mal die Kraft aufbringt, sich einen Schokoriegel zu verkneifen, dann frustriert ihn fünf Minuten später etwas so sehr, dass er gleich ein halbes Dutzend in sich hineinschiebt – von den doppelt gestapelten Pizzastücken mal ganz zu schweigen. „The Whale“ hat zweifellos ein gewisses voyeuristisches Moment …
… und das bedient Darren Aronofsky auch, ohne mit der Wimper zu zucken. Auch Gags sind erlaubt, etwa wenn sich die zierliche Lin mit aller Kraft wie bei einem Wrestling-Manöver auf den Rücken von Charlie stürzt, als sich dieser an seinem Frikadellen-Sandwich verschluckt. Aber machen wir uns nichts vor, natürlich ist das gewaltige Gewicht des Protagonisten eben auch ganz einfach der Teil der Prämisse, der einen sofort aufhorchen lässt und überhaupt erst das Interesse eines Großteils des Publikums an „The Whale“ entfachen wird.
Ein sterbender Vater, der noch mal eine Verbindung zu seiner entfremdeten Tochter aufbauen will - da hätte doch ohne das ganze Extrafett sonst kein Hahn mehr nach gekräht. Und tatsächlich darf und sollte man sich die Frage stellen, wie sehr es eigentlich das Stück beziehungsweise den Film verändert hätte, wenn Charlie statt an Übergewicht an Krebs oder sonst was sterben würde?
Aber nun ist das Ticket schon gekauft – und es dauert nur wenige Minuten, bis man da auf der Leinwand nicht länger die weiße Antwort auf Fatsuit-Guru Eddie Murphy, sondern einen klugen, liebenswürdigen und zutiefst empathischen Menschen aus (sehr viel) Fleisch und Blut sieht. Es ist ein Paradox, aber Brendan Fraser verkörpert die ständige Atemnot und die höllische Anstrengung bei selbst minimalen Bewegungen scheinbar mühelos. Nie wirkt es so, als würde sich hier jemand ganz besonders anstrengen, nur um seine Oscarchancen zu erhöhen (selbst wenn Fraser den begehrten Goldjungen am Ende dann doch abgesahnt hat).
Sobald man diesen Charlie kennengelernt hat, würde man gar nicht mehr auf die Idee kommen, ihn zu bemitleiden. Stattdessen ist er derart empathisch, optimistisch und herzensgut, dass man ihn – Chips-Krümel hin oder her – viel eher bewundert und ihm im Kampf für seine Tochter beide Daumen drückt. „Stranger Things“-Shooting-Star Sadie Sink verkörpert Ellie voller aufgestauter Wut und einer auf echte Wirkungstreffer angelegten Schlagfertigkeit, die immer wieder bis ins Mark geht, weshalb die Auflösung rund um den titelgebenden „Moby Dick“-Essay allerdings nur noch mehr zu Herzen geht.
Fazit: Brendan Fraser, Sadie Sink und Hong Chau liefern in dieser erstaunlich werkgetreuen Theateradaption gleich drei der besten Performances des Jahres – und erteilen uns nebenbei auch noch eine Lehrstunde in Empathie und Menschlichkeit, die unter der vergleichsweise zurückgenommenen Regie von Darran Aronfsky bis zur herzzerreißenden Schlusseinstellung absolut mitreißend geraten ist.
Wir haben „The Whale“ im Rahmen des Filmfestivals in Venedig gesehen, wo er als Teil des offiziellen Wettbewerbs seine Weltpremiere gefeiert hat.