Intergalaktisches Anime-Highlight – und ein Muss für Sci-Fi-Fans!
Von Michael MeynsLaut dem Kybernetiker Ray Kurzweil ist es nur noch eine Frage der Zeit, bis Maschinen intelligenter sind als Menschen – und schließlich sogar die Singularität eintritt. Vielleicht werden wir dann erfahren, ob „Androiden von elektrischen Schafe träumen“* – oder vielleicht doch danach streben, die Menschheit zu vernichten? Seit Philip K. Dicks Roman Ende der 60er Jahre erschien und Anfang der 80er als „Blade Runner“ verfilmt wurde, variiert das Science-Fiction-Kino immer wieder diese Frage. Und genau das tut nun auch der französische Autor und Regisseur Jérémie Périn in seinem bemerkenswerten Regiedebüt „Mars Express“, einem Sci-Fi-Animationsfilm für Erwachsene, der sich inhaltlich am Genre des Film noir entlanghangelt und ästhetisch deutlich vom japanischen Anime inspiriert ist. Aus den bekannten stilistischen und storytechnischen Elementen entsteht hier jedoch etwas vollkommen Eigenes.
Im Jahr 2200 ist der Mars besiedelt und Androiden gehören zum Alltag: Die menschliche Privatdetektivin Aline Ruby und ihr Androiden-Partner Carlos Rivera erhalten den Auftrag, in Noctis, einer futuristischen Metropole auf dem Mars, das Verschwinden einer Studentin zu ergründen. Jun Chow hatte zuvor im Bereich Robotik geforscht und war auf einen Code gestoßen, der es ermöglicht, Androiden von ihren Zwängen zu befreien: So könnten sie sich über die Regeln, die Menschen aufgestellt haben, um Roboter zu kontrollieren, hinwegsetzen – auch um sich selbst zu schützen. Immer tiefer gerät das detektivische Duo in ein Komplott, welches das Gleichgewicht zwischen Menschen und Androiden zu zerstören droht…
Es ist irgendwie schon ironisch, dass Menschen so große Angst davor haben, von Künstlicher Intelligenz oder Androiden beherrscht zu werden. Schließlich waren es historisch gesehen doch die Menschen selbst, die sich im Lauf der Geschichte als das zerstörerischste Wesen auf dem Planeten erwiesen haben. Aber man schließt ja gerne von sich auf andere – und so wurde die Bedrohung stets im „Anderen“ gesehen, erst in fremden Völkern und bald vielleicht auch in von uns selbst gebauten Computern und Robotern. Schon 1942 formulierte der legendäre Autor Isaac Asimov dementsprechend die „Robotergesetze“, nach denen Roboter niemals zum Schaden ihrer menschlichen Herren agieren dürfen. Doch was, wenn Roboter diese sie einschränkenden Regeln ausschalten können? Oder es Menschen gibt, die in diesen oder ähnlichen Regeln eine Einschränkung sehen, die es abzustreifen gilt wie die Fesseln der Kolonialzeit?
Um diese Fragen kreist Jérémie Périn visionäres Regiedebüt „Mars Express“, dem es in kaum 90 Minuten gelingt, eine komplexe Welt zu zeigen, die reich an ambivalenten Figuren und spektakulären Bildern ist. Das fängt an mit den beiden Protagonist*innen, Variationen klassischer Film-noir-Figuren: Aline, eine toughe Detektivin, die lange Alkoholabhängig war und nur dank eines implantierten Chips, der Barkeeper*innen daran hindert, ihr Alkohol einzuschenken, vom Trinken lassen kann. Es ist ein Chip, dessen Sperrfunktion sie allerdings selber abschalten kann, ganz im Gegenteil zu ihrem künstlichen Partner Carlos. Der ist ein Roboter, dessen Wesen Alines menschlichem Partner, der einst bei einem Aufstand von Robotern ums Leben kam, nachempfunden ist. Etwas verloren bewegt sich dieser künstliche Carlos nun durch die Welt, wenn er versucht, das Verhältnis zu seiner menschlichen Frau und dem gemeinsamen Kind zu verbessern – und wird schließlich an eine Roboter-Selbsthilfegruppe verwiesen.
Mit kleinen Details wie diesem füllt Prévin die Welt und macht sie dadurch reich und komplex: In Clubs finden sich kaum noch menschliche Prostituierte, in der schönen neuen Welt wurde diese Arbeit komplett von Androiden übernommen. Die Erde ist derweil zu einem Slum verkommen, auf dem vor allem jene Menschen leben, die sich den Mars nicht leisten können: Eine zukünftige Form der Gentrifizierung sozusagen. Und auch die Tech-Impresarios der Gegenwart treiben in dieser Dystopie noch immer ihr Unwesen, kontrollieren den Markt an Androiden und haben gerissene Gegner: Hacker*innen versuchen die Androiden zu emanzipieren, ein angesichts von Methoden der Komplettüberwachung riskantes Unterfangen. Und vielleicht auch ein selbstmörderisches, zumindest wenn es das tatsächlich das Ziel der Androiden sein sollte, die Macht auf der Erde (und dem Mars) zu ergreifen und die Menschheit zu vernichten.
Genau diese Angst wird seit Jahrzehnten im Science-Fiction-Kino thematisiert und spätestens seit letztem Jahr, im Zuge der spektakulär verbesserten Möglichkeiten von ChatGBT und ähnlichen KI-Programmen, auch von einer breiteren Öffentlichkeit wahrgenommen. Absolut zeitgemäß wirkt dadurch „Mars Express“, der sich wie die besten Vertreter seiner Art nicht damit begnügt, allzu klare Gut-Böse-Gegensätze zu zeichnen. So eindeutig, so einfach macht er es sich nicht, stattdessen haben auch die hier gezeigten Androiden eine Seele, leiden und träumen. Vielleicht nicht von elektrischen Schafen, aber von einem Leben in Freiheit – und das kann ihnen ja eigentlich kein Mensch verdenken.
Fazit: In spektakulären Bildern erzählt Jérémie Périn eine im Ansatz bekannte Geschichte, die er jedoch auf so clevere, originelle Weise variiert, dass sein Regiedebüt „Mars Express“ zu einem der sehenswertesten Filme der letzten Jahre über die alte Frage wird, was das Wesen eines Menschen eigentlich ausmacht – und ob Androiden nicht ganz ähnlich fühlen können.
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