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    X
    Kritik der FILMSTARTS-Redaktion
    4,0
    stark
    X

    Viel mehr als einfach noch ein texanisches Kettensägenmassaker

    Von Christoph Petersen

    Der Titel von Ti Wests Slowburn-Slasher „X“, in dem eine Porno-Crew ihr ganz persönliches Texas Chainsaw Massacre erlebt und dessen Premiere auf dem SXSW-Festival direkt einen kaum zu überhörenden Hype um die Retro-Horror-Hommage ausgelöst hat, spielt auf gleich zwei Dinge an: Zum einen natürlich auf die Nicht-Jugendfreigabe „X-Rated“, die in den USA bis 1990 vor allem an pornographische und extrem gewalttätige Filme vergeben und inzwischen durch das NC-17-Rating abgelöst wurde. Zum anderen aber auch auf den selbsterklärten X-Faktor von Stripperin Maxine (Mia Goth), die mit Hilfe ihres fast doppelt so alten Freundes/Managers Wayne (Martin Henderson) unbedingt den Sprung zum Porno-Superstar schaffen will.

    Wir schreiben das Jahr 1979. Bis zur alles überschwemmenden Heimkino-Porno-Welle der Achtziger dauert es noch eine Weile. Es herrscht Goldgräberstimmung, denn selbst mit billig produzierter Amateurware lässt sich ein Vermögen verdienen. Als Regisseur hat Wayne den Nachwuchsfilmer RJ (Owen Campbell) angeheuert, der den Schmuddelfilm als Sprungbrett auf dem Weg zum Begründer der amerikanischen Nouvelle Vague sieht. Ebenfalls mit von der Partie sind die blonde Bobby-Lynne (Brittany Snow) und der großzügig bestückte Jackson (Kid Cudi) – sowie RJ’s schüchterne Freundin Lorraine (Jenna Ortega), die sich mit um die Technik kümmert. Gedreht wird auf der Ranch des greisen Howard (Stephen Ure), der die Crew direkt mit seiner Schrottflinte begrüßt…

    Nachwuchsfilmer RJ (Owen Campbell) will aus dem Porno ein cineastisches Meisterwerk formen.

    Nicht nur Möchtegern-Godard RJ hegt bei seinem Porno „The Farmer’s Daughter“ inszenatorische Ambitionen, die weit über das Genre-übliche Maß hinausgehen. Dasselbe gilt auch für Slowburn-Spezialist Ti West („The House Of The Devil“), der „X“ direkt mit einem angetäuschten Formatwechsel von 4:3 auf 1.90:1 beginnt, der sich dann aber doch nur als clevere Nutzung eines Stalltors entpuppt. Der Film hat einen wunderbar-körnigen Retro-Look, einen ungewohnt ruhigen, aber extrem bedachten Schnitt sowie greifbar-handgemachte Gore-Effekte. Trotzdem ist „X“ keine anbiedernde Horror-Hommage, sondern vielmehr der Film, den die meisten Regisseure von Siebzigerjahre-Slashern wohl am liebsten selbst gedreht hätten, wenn sie denn das Zeug dazu gehabt hätten.

    Dabei ist sich Ti West seiner Vorbilder natürlich sehr wohl bewusst. Neben den eher üblichen visuellen Anspielungen wie einem „Shining“-Zitat mit getauschten Geschlechterrollen sind es aber vor allem die Hitchcock-Reminiszenzen, die besonders clever sind - von der Suspense-Plansequenz im Tümpel hinterm Haus bis hin zu den Diskussionen über den plötzlichen 180-Grad-Richtungswechsel in „Psycho“. Nur bei den Schlag auf Schlag folgenden Slasher-Kills in der zweiten Hälfte geht’s dann nicht mehr ganz so filigran, sondern streckenweise ziemlich matschig zu – da weiß Ti West sehr genau, was die Fans von ihm erwarten.

    Muss man sich wirklich vor einem Greis jenseits der 90 in acht nehmen? Wenn er aus Texas kommt, wahrscheinlich schon...

    Wer – wie zugegebenermaßen auch ich selbst – nach der Inhaltsangabe schon meinte, ganz genau zu wissen, wo der Hase hinläuft, wird übrigens positiv überrascht. Ti West zaubert nämlich nicht etwa eine Motorsägen-schwingende Hinterwälder-Familie aus dem Hut, sondern belässt es bei dem greisen Ehepaar, das aussieht und sich bewegt, als hätte es zumindest die 90 schon lange hinter sich gelassen. Aber wie soll sich aus dieser Jung-gegen-uralt-Konstellation ein orgiastisch-blutiges Slasher-Fest entspinnen? Die Antwort für Ti West lautet jedenfalls: Indem er zunächst einmal richtig starke Charaktere entwickelt…

    Die Porno-Crew wird trotz des teils garstigen Gore-Humors in der zweiten Hälfte nie der Lächerlichkeit preisgegeben – stattdessen entwickeln sich vor allem Mia Goth („Suspiria“), Brittany Snow („Pitch Perfect“) und Jenna Ortega („Scream 5“) zu mehrschichtigen Sympathieträgerinnen, die Themen wie Selbstermächtigung und Doppelmoral (sicher kein Zufall, dass im TV die ganze Zeit derselbe laut dröhnende Fernseh-Pfarrer predigt) verhandeln. Noch überraschender ist allerdings, wie ausgerechnet auf der Killer-Seite mit großer Sanftheit und Melancholie über Ruhm und Alter reflektiert wird (wer die Doppelrolle sofort erkennt, vor dem ziehe ich wirklich meinen Hut). Etwas nicht nur derart grausames, sondern im selben Moment auch zutiefst berührendes hat man beim Leatherface-Clan jedenfalls nicht erlebt.

    Fazit: Der fantastisch aussehende „X“ ragt aus der Masse an mäßigen „Texas Chainsaw“-Nachzüglern meilenweit heraus. Ti West liefert dabei nicht nur einnehmende Figuren und spaßig-fiese Kills, sondern auch die wohl bestinszenierte Wassertier-Horrorszene seit Steven Spielbergs „Der weiße Hai“ – und das hätten wir bei einem Slasher, der mitten im staubigen texanischen Nirgendwo spielt, nun wirklich nicht erwartet.

    PS: Ein Prequel zu „X“ ist bereits direkt nach dem ersten Film abgedreht worden. Aber wenn wir euch an dieser Stelle nur den Titel verraten, wäre das bereits ein ziemlicher Spoiler. Deshalb nur so viel: Vorfreude pur!

    Wir haben „X“ auf den Fantasy Filmfest Nights 2022 gesehen, wo er als Eröffnungsfilm gezeigt wird.

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