Der Mann sieht mit seinem fülligen, Burger-King-gestählten Leib, der zotteligen Frisur und entsprechendem Bart ganz harmlos aus, doch er ist alles andere als das. Der radikale Journalist und Dokumentarfilmer Michael Moore lehrt dem konservativen Bush-America gerade das Fürchten. Sein Bestseller „Stupid White Man“ ist das derzeit meistverkaufte Sachbuch in den USA und seine bizarr-witzige Dokumention „Bowling For Columbine“ entwickelt sich zum echten Indie-Hit. In beißend satirischer Form nähert sich Moore dem US-Phänomen der - im Vergleich zu anderen Nationen - exorbitanten Gewaltbereitschaft der amerikanischen Gesellschaft.
Inspiriert wurde Moore („Roger & me“) durch einige Querverbindungen, die ihm aufgefallen sind. Ausgehend von dem grauenhaften Schulmassaker in dem kleinen Denver-Vorort Littleton im Jahre 1999 stieß Moore auf den Fakt, dass die beiden Oklahoma-Bomber, die 1995 in einem US-Regierungsgebäude 168 Menschen in den Tod sprengten, und der mächtigste Mann der US-Waffenlobby, Charlton Heston, ebenfalls dort aufgewachsen sind. Das brachte Moore darauf, der Waffengeilheit seiner Landsleute einmal auf die Spur zu gehen und nach Erklärungen zu suchen. In loser Folge klappert er Personen und Schauplätze ab, die etwas Licht ins Dunkel bringen sollen. Unkommentiert lässt Moore seine Interviewpartner auf das Celluloid los. Das nimmt bizarre Formen an, wenn man bei der Eröffnung eines Bankkontos gleich noch eine Knarre als Giveaway mitbekommt, ist erschütternd-witzig, wenn ein Freund des Oklahoma-Bombers Timothey McVeigh darüber orakelt, dass doch der Zugang zu waffenfähigem Plutonium zumindest reglementiert werden sollte. „There are to many wakos out there“, bilanziert er trocken... Das ist bitter und schreiend komisch zugleich. In diesem Geist hält Moore seinen ganzen Film. Er muss sich über niemanden lustig machen - die Leute entlarven sich selbst, ohne es zu merken.
Nur einmal gerät das satirische Element aus der Bahn. Mit zwei Überlebenden, die beim Littleton-Massakers zu Krüppeln geschossen wurden, taucht er bei der Supermarktkette K-Mart, die den beiden Schützen die tödlichen Kugeln verkaufte, auf. Ihre Forderungen, die Munition aus dem Warenangebot zu nehmen, stößt am ersten Tag auf taube Ohren und wenig Verständnis. 24 Stunden später hat Moore aber die Horde der versammten US-TV-Presse im Schlepptau. Das wirkt Wunder. In einer Erklärung gibt K-Mart bekannt, innerhalb von 90 Tagen Waffen und Munition aus dem Angebot zu nehmen - ein anrührender Sieg für den Guerilla und seinen Anfang.
Moore bietet nicht nur Zeitzeugen auf, die ernsthaft an der Zurechnungsfähigkeit der amerikanischen Gesellschaft im allgemeinen zweifeln lassen, sondern untermalt seine Thesen auch mit Fakten. Erschreckenden Fakten. In den USA werden jährlich mehr als 11.000 Menschen erschossen („gun deaths“). Zum Vergleich: In Deutschland, Großbritannien und Frankreich sind es rund 300, in Kanada, das ebenso waffenverliebt ist, gar nur 165. 250 Millionen Waffen sind in den US-Haushalten in Umlauf. Und in keinem anderen Land der Welt ist es so einfach, an Pistolen, Gewehre und automatische Waffen zu kommen wie in Amerika. Wozu braucht man eine Waffe? Um sich zu verteidigen, propagiert die NRA, die National Rifle Association, die mächtige US-Waffenvereinigung, denen Hollywood-Altstar Charlton Heston als Präsident vorsteht und die eine milliardenschwere Industrie hinter sich weiß. Doch gerade bei diesem Fakt ist eine Schieflage entstanden. Während die Gewaltverbrechen in den USA seit Jahren langsam, aber stetig zurückgehen, ist die Anzahl der Sendeminuten im TV über Gewalttaten um 600 Prozent gestiegen.
Desweiteren stellt Moore Zusammenhänge zwischen Gewalt, der amerikanischen Außen- und Medienpolitik her, verquickt dies mit Fakten aus der Wirtschaft und Historie. Doch auch das erklärt die offensichtliche Waffenbesessenheit in god‘s own country nicht vollends. Auch die Regierung unternimmt wenig dagegen. Ein halbherziges Gesetz, das den Kauf von Waffen erschweren sollte und von Bill Clinton gegen die NRA durchgesetzt wurde, zeigt keine Wirkung. International entsteht im Moment eher der gegenteilige Eindruck. Der Weltpolizist USA präsentiert sich unter der Bush-Administration und in der Folge des 11. September außerhalb des Landes als kriegsgeile Cowboy-Nation. Deshalb ist der subversive Moore den Oberen auch ein Dorn im Auge. Denn er findet Anhänger, viele Anhänger, auch im eigenen Land. Das zeigt, dass man die Hoffnung auf Besserung doch noch nicht aufgeben muss.
Stilistisch zieht Moore in „Bowling for Columbine“ alle Register, die im Low-Budget-Bereich möglich sind. Er streut beißend-irrwitze Comic-Sequenzen ein, mischt geschichtliches Archivmaterial mit Aussagen der Interviewten und geht selbst zum Nahkampf über. Zum großen Showdown erschleicht er sich einen Gesprächstermin bei Gegenspieler Charlton Heston und führt ihn nach allen Regeln der Kunst vor. Heston flüchtet einfach in seinem eigenen Haus vor Moore und seinen unbequemen Fragen.
Bei aller Finesse, die Moore an den Tag legt, nicht nur zu schockieren, sondern auch zu unterhalten und informieren, kann er natürlich auch keine Lösung für das Problem anbieten. Er reflektiert - und das auf gnadenlos subjektive Weise, die dem erzkonservativen Amerika die Zornesröte ins Gesicht treibt. Im zunehmend anti-amerikanischer werdenden Europa wird Moore dagegen mit offenen Armen aufgenommen. Zum ersten Mal seit 46 Jahren durfte mit „Bowling for Columbine“ ein Dokumentarfilm im Wettbewerb von Cannes starten – und erhielt neben dem Spezialpreis der Jury mehrfachen Szeneapplaus. Der Titel des Films erklärt sich übrigens folgendermaßen. Vor dem Littleton-Schulmassaker spielten die beiden Attentäter morgens, quasi zur Einstimmung, eine Partie Bowling, bevor sie wenig später an der Columbine High School zwölf Schüler und einen Lehrer töteten. Schließlich waren sie im Bowling-Kurs der Schule...