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    An einem schönen Morgen
    Kritik der FILMSTARTS-Redaktion
    3,0
    solide
    An einem schönen Morgen

    Zurück zu den Pariser Philosoph*innen

    Von Michael Meyns

    Zwei Jahre hintereinander nach Cannes eingeladen zu werden, das muss man erst einmal schaffen. Der französischen Regisseurin Mia Hansen-Løve ist dieses Kunststück gelungen: 2021 war sie mit „Bergman Island“ im Wettbewerb zu Gast, ein Jahr später läuft nun „An einem schönen Morgen“ in der unabhängigen Nebenreihe Directors‘ Fortnight. Ein guter Platz für einen Film, mit dem sich Hansen-Løve nach zwei gelungenen („Bergman Island“) bzw. weniger gelungenen („Maya“) Ausflügen ins englischsprachige Kino wieder auf bekannten Pariser Pfaden bewegt: Eine dicht erzählte Geschichte um Familie, Zwischenmenschliches und die Liebe. Mit großer Souveränität inszeniert, von französischen Schauspielgrößen wie Léa Seydoux oder Melvil Poupaud überzeugend gespielt, aber doch vor allem eine Variation des Bekannten im Oeuvre einer Regisseurin, die sich diesmal künstlerisch nicht besonders herausfordert.

    Sandra (Léa Seydoux) lebt als alleinerziehende Mutter in Paris. Seit dem Tod ihres Mannes ist ihr Liebesleben eingeschlafen. Stattdessen legt sie ihren Fokus ganz auf ihrer Tochter Linn (Camille Leban Martins), ihren Beruf als Dolmetscherin und zunehmend auch auf ihren alternden Vater, den ehemaligen Philosophieprofessor Georg (Pascal Greggory), der immer vergesslicher wird und zudem fast blind ist. Nun muss er sogar aus seiner Wohnung ausziehen und dabei nicht nur seine enorme Büchersammlung zurücklassen, sondern auch viele Erinnerungen. Nur wohin (mit den Büchern und dem Vater)? Ein privates Pflegeheim ist zu teuer, die staatlichen sind wenig ansprechend. Während die Familie in Sorge um den Vater ist, tritt ein Mann in Sandras Leben: Der Kosmochemiker Clement (Melvil Poupaud) ist ein alter Bekannter und dazu auch noch verheiratet. Während der Vater zunehmend seine Vergangenheit vergisst, fragt sich Sandra, wohin sich ihr Leben in Zukunft entwickeln soll…

    Sandra (Léa Seydoux) muss sich gleichzeitig um ihre Tochter und ihren Vater kümmern – da passiert es leicht, dass man vergisst, auch selbst zu leben …

    In ihrem achten Spielfilm beackert die französische Regisseurin wieder klassisches Mia-Hansen-Løve-Gebiet – auf Französisch und in Paris. Ebenfalls typisch sind die autobiographischen Bezüge, die sich mehr oder weniger lose durch alle ihre Filme ziehen: Ihre Eltern waren eine Philosophielehrerin und ein Übersetzer, Hansen-Løve selbst besitzt einen Abschluss in deutscher Philosophie und damit auch einen Bezug zur deutschen Sprache wie Sandra, die Briefe der Klaus Mann-Zeitgenossin Annemarie Schwarzenbach herausbringen will. Das Eintauchen in eine bildungsbürgerliche Welt beherrscht Mia Hansen-Løve perfekt, sanft fließen die Szenen ineinander – in weiches, leicht pastellfarbenes Licht getaucht, das das Leben in Paris immer irgendwie melancholisch erscheinen lässt. In dieser Welt hat die Regisseurin ihr Debüt „Der Vater meiner Kinder“ genauso angesiedelt wie ihren bisher größten Hit „Alles was kommt“ mit Isabelle Huppert. In dieser Welt verkehrt sie selbst, hier kennt sie sich aus.

    Grundsätzlich ist nichts dagegen zu sagen, wenn Filmemacher*innen immer wieder dieselben Themen verhandeln, ähnliche Welten zeigen. Auch ein Regisseur wie Woody Allen war schließlich jahrzehntelang kaum von New York zu trennen. Doch für Mia Hansen-Løve wirkt der Rückgriff auf bekannte Gefilde wie ein Rückschritt: „Maya“, ihr erster englischsprachiger Ausbruch aus bekannten Welten, misslang zwar, aber der darauffolgende „Bergman Island“ zählt mit seiner verschachtelten Film-im-Film-Struktur und seiner Metaebene, in der Hansen-Løve ihre immer präsenten autobiographischen Elemente spannend variieren konnte, zu ihren besten Werken.

    Sandra kennt den verheirateten Kosmochemiker Clement (Melvil Poupaud) schon ewig – und trotzdem verknallt sie sich nun plötzlich in ihn.

    (Zu) Oft hat die Regisseurin auf ähnliche Weise das Leben bildungsbürgerlicher Menschen in Paris beschrieben, die Umwege des Lebens und der Liebe skizziert. Als Neuerung mag man allein die Beschäftigung mit dem Älterwerden, der Vergänglichkeit, dem nahenden Tod sehen. Besonders anrührend sind dann auch die Szenen zwischen dem alternden Vater und seiner Familie, die mit seiner Wohnung und Büchersammlung nicht nur materielle Dinge entsorgen, sondern auch die Essenz eines Menschen. Starke Momente gelingen Hansen-Løve hier, „natürlich“ möchte man fast sagen: Ihr Gespür für Zwischentöne war schon immer groß und ist im Laufe der Zeit, fraglos auch durch eigene Erfahrungen, Trennungen, Unglücke geprägt, nur noch reicher geworden. Bleibt nur zu hoffen, dass sie in Zukunft ihre Qualitäten wieder mit einer erzählerisch ambitionierten Form verknüpft.

    Fazit: Ein höchst souveräner Film über das Leben bildungsbürgerlicher Menschen in Paris. Das Gespür der französischen Regisseurin für leise Zwischentöne und genaues Beobachten ist im Laufe der Zeit nur gewachsen, doch nach einigen erzählerisch ambitionierteren Filmen mutet „An diesem schönen Morgen“ trotz aller Qualitäten dennoch wie ein gewisser Rückschritt für Mia Hansen-Løve an.

    Wir haben „An einem schönen Morgen“ beim Filmfestival in Cannes 2022 gesehen, wo er in der unabhängigen Sektion Directors‘ Fortnight gezeigt wurde.

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