Ein einzigartiges Kino-Experiment!
Von Thorsten HanischDer außergewöhnliche Dokumentarfilm „Olfas Töchter“, der seine Weltpremiere im Wettbewerb der Filmfestspiele von Cannes gefeiert hat, handelt von der tunesischen Mutter Olfa Hamrouni und ihren vier Töchtern, von denen zwei moderne, emanzipierte junge Frauen geworden sind, die anderen zwei sich aber der Terrorgruppe „Islamischer Staat“ (IS) angeschlossen haben. Was war passiert?
Der experimentelle Film von Kaouther Ben Hania (oscarnominiert für „Der Mann, der seine Haut verkaufte“) geht in einer höchst ungewöhnlichen Mischung aus Dokumentarfilm und Reenactment der Frage nach, wieso sich Menschen radikalisieren und fundamentalistischen Ideologen hinterherlaufen. So richtig findet der Film keine Antwort auf die Frage, allerdings versteht die Regisseurin ihr Quasi-Kammerspiel auch eher als „therapeutisches Labor“ denn als eine Vergangenheitsaufarbeitung. Das ist mitreißend und allein schon aufgrund der einzigartigen Erzählweise und den starken formalen Ideen sehenswert.
Olfa Hamrouni erreichte 2016 internationale Bekanntheit, als sie in den Medien die tunesische Regierung stark für ihre Tatenlosigkeit in Hinblick darauf kritisierte, dass sich immer mehr junge Tunesier und Tunesierinnen dem IS anschließen. Bereits damals wurde die Filmemacherin Ben Hania auf Hamrounis Fall aufmerksam und wollte mit ihr einen Dokumentarfilm drehen. Aber das Projekt scheiterte: Der Ansatz war für das Thema einfach nicht der richtige. Sechs Jahre später wagte man sich dann aber mit einer gänzlichen neuen Idee an das Projekt – für das drei Schauspielerinnen und einen Schauspieler mit an Bord geholt wurden.
Das Besondere daran ist, wie die Profi-Darsteller*innen eingesetzt werden: Immer wenn die reale Olfa die Szenen emotional zu sehr belasten, übernimmt die im arabischen Raum bekannte Schauspielerin Hend Sabri. Olfa Hamrounis noch zu Hause lebenden Töchter Eya und Tayssir wiederum werden von Ichraq Matar und Nour Karoui ergänzt, die die Rollen ihrer zum IS übergelaufenen Schwestern Rhama und Ghofrane spielen. Majd Mastoura verkörpert unterdessen verschiedene Männer in Olfas Leben.
Allerdings befinden sich die „realen“ und „gespielten“ Charaktere nicht in unterschiedlichen filmischen Räumen, sondern interagieren auf verschiedene Weise miteinander. So kommentiert zum Beispiel die von Sabris gespielte Olfa gelegentlich Ansichten oder Aktionen der echten Olfa. Genauso wird der filmische Charakter des Projekts immer wieder hervorgehoben, etwa wenn Charaktere direkt mit der Regisseurin oder direkt in die Kamera sprechen. Das klingt jetzt vielleicht fürchterlich verkopft und kompliziert, fühlt sich aber, da alles nahtlos ineinander übergeht, relativ schnell organisch an und entwickelt einen ganz eigenen, sehr lebendigen, abwechslungsreichen Flow.
„Olfas Tochter“ ist ein intimer Film. Das Geschehen spielt fast ausschließlich in Innenräumen. Durch eingeschobene Ausschnitte aus Nachrichten- und anderen Sendungen findet eine historische wie zeitliche Kontextualisierung statt. Details der Geschichte Olfas bleiben dennoch unklar, Ben Hania ist nicht interessiert an einer exakten biografischen Aufarbeitung. Die Charaktere stehen im Mittelpunkt ihres Interesses, die Gesichter werden von einer faszinierten Kamera wie Porträts eingefangen, wirken nahezu wie huldigende Gemälde.
Und ebenso wie das Außen der Figuren erforscht wird, erkundet der Film das Innen und legt die vorgefundene Komplexität und oftmals Widersprüchlichkeit offen: Olfa und ihre Töchter bewegen sich in einem Spannungsfeld zwischen Tradition und Moderne, zwischen tief verankertem Patriarchat und Feminismus, mit dem die Familienmitglieder unterschiedlich umgehen. Was gelegentlich übrigens mit Elementen des Coming-of-Age-Films verbunden wird, weswegen Ben Hanias Film trotz der traurigen Thematik nie zur todernsten Problembewältigungsnummer verkommt.
Fazit: Die Tunesierin Olfa Hamrouni und zwei ihrer vier Töchter arbeiten zusammen mit der Unterstützung von drei Schauspieler*innen in einem experimentellen Familiendrama, das in der engeren Auswahl für die Oscars 2024 für sowohl den besten Dokumentarfilm als auch den besten internationalen Film steht, ihre tragische Vergangenheit auf. Das hat durchaus was von einer Familientherapie, dennoch bleibt man – allein schon dank der ungewöhnlichen Erzählform und der schönen Bilder – mühelos dran, leidet und lacht mit Olfa und ihren Töchtern und hat am Ende das Gefühl, den äußerst einnehmenden Figuren auf der Leinwand tatsächlich unheimlich nahe gekommen zu sein.