Die Zärtlichkeit der Bergbauern
Von Christoph PetersenIn Michael Kochs Schweizerischem Berlinale-Wettbewerbsbeitrag „A Piece Of Sky“ spielt eine Liebesgeschichte eine Rolle, die schon vor einer Weile erloschen ist. Nach etwa der Hälfte des mit Laiendarsteller*innen realisierten Dramas schaut ein 35-köpfiges indisches Filmteam in dem abgelegenen Bergdorf vorbei, um dort vor atemberaubender Schneekulisse eine melodramatische Tanzszene zu drehen – dabei ist die jahrzehntelange Verliebtheit des Bollywood-Kinos mit den Schweizer Alpen längst nicht mehr aktuell. Aber es gibt auch eine ganz frische Liebe …
… und zwar die der alleinerziehenden Einheimischen Anna (Michèle Brand) zu dem bullig-schweigsamen Marco (Simon Wisler), der vom Flachland kommt und in der Kneipe nur Eistee trinkt, weshalb ihm viele Ansässige nicht zutrauen, dass er es hier oben lange aushalten wird. Aber das ist Anna und Marco egal – sie heiraten und schaffen sich ein bescheidenes Glück. Das hält allerdings nur so lange, bis Marco immer wieder Kopfschmerzen bekommt – und schließlich auch seine Impulse nicht mehr kontrollieren kann. Er hat einen Tumor, der ihn nicht nur töten könnte, sondern auch seine Persönlichkeit beeinflusst.
Anna (Michèle Brand) und Marco (Simon Wisler) fehlen die tiefgreifenden Worte, um ihre Liebe zu beschreiben – aber sie haben eine große Zärtlichkeit füreinander.
Simon Wisler ist als Marco in seinem Spiel zwar limitiert, aber dennoch eine beeindruckende Präsenz – ein bulliger Typ, der oft schweigend auf den Boden starrt, der beim Heumachen und Einschlagen der Zaunpfähle aber auch richtig hart anpacken kann. Umso harscher ist der Kontrast, wenn er beim Erklimmen der Serpentinen plötzlich nicht mehr weiterfahren kann – er hat gerade eine Kuh beim Schlachter abgeliefert und nun selbst eine lähmende Todesangst. Dabei ziehen sich solche Verbindungen von menschlichen und tierischen Schicksalen konsequent durch den Film.
Erst uriniert eine Kuh auf die Wiese – zwei Szenen später ein Mann. Wenn ein Bulle zum Decken eingesetzt wird, spricht jemand Marco auf eine mögliche Schwangerschaft seiner Frau an – und als Marco sich weigert, trotz seiner Schmerzen zum Arzt zu gehen, gibt es einen Schnitt in den Stall, wo der Veterinär einer Kuh gerade tief in den Rachen langt. Diese Spiegelungen etablieren schmerzhaft-anschaulich, aber auch ein wenig platt, dass dort oben unter den harschen Verhältnissen erst Recht eine knallharte Kosten-Nutzen-Rechnung gilt – Beschaulichkeit des Dorflebens und Erhabenheit der Natur hin oder her!
Wenn eine Kuh nach ein paar Versuchen nicht schwanger wird, muss sie eben zum Schlachter, etwas anderes können sich die Bergbauern gar nicht leisten – und auch wenn Anna eine liebende, empathische Frau ist, fragt sie ihren morgens zusammengesunken am Frühstückstisch hockenden Mann nicht, ob es ihm gut geht, sondern ob er nicht längst bei der Arbeit sein müsste. Und sie hat recht – Marco wird direkt gefeuert und ersetzt. In den Bergen muss man sich aufeinander verlassen können, da steht das „Funktionieren“ an der ersten Stelle.
Michael Koch findet dafür atemberaubende Bilder – vor allem die Einstellung, in der an einem Metallseil befestigte Heuballen aus dem Nebel hervorschießen, bleibt definitiv im Gedächtnis haften. Erst hört man nur ein Summen und das Klappern des Seils – und man kann sich schon daran, dass es anschließend eine ganze Weile dauert, bis die Ballen schließlich auf den Boden krachen, selbst ausrechnen, von wie weit da oben aus dem nebeligen Nichts sie kommen müssen.
Die Akte des Films werden durch die Szenen eines Bergchors unterbrochen, der thematisch passende Requiems vor eindrucksvollen Panoramen singt.
„A Piece Of Sky“ ist zwar von Beginn an bildgewaltig, aber in seiner Metaphorik eben auch lange Zeit ein wenig simpel. Das ändert sich allerdings im finalen Drittel, wenn sich der Film nach einem folgenschweren, tumorbedingten Zwischenfall noch einmal in eine ganz neue, persönlichere Richtung entwickelt. Nach allem, was man vorher gesehen hat, geht man eigentlich davon aus, dass Marco nun mit gezückten Mistgabeln fortgejagt wird – aber solche Momente sind nur selten und verhalten.
Stattdessen entdecken die Dorfbewohner*innen und mit ihnen auch der Film im finalen Drittel eine zu diesem Zeitpunkt völlig unerwartete Zärtlichkeit, die zutiefst berührt (und angesichts der angerissenen Tabu-Thematik Kindesmissbrauch sicherlich auch einen Teil des Publikums provozieren wird). Da entwickelt sich „A Piece Of Sky“ selbst zu einem kraftvollen Refugium, wie es der örtliche Chor zu Beginn jedes Aktes ganz klein vor einer alles überragenden Naturkulisse anstimmt.
Fazit: Die Laiendarsteller sind ebenso herausragend wie viele der Bilder, die Michael Koch hoch dort oben im harschen Alltag der Schweizerischen Alpenbauern findet. Und auch wenn die Menschen-und-Kühe-Metaphorik zunächst noch etwas platt ist, entwickelt „A Piece Of Sky“ zum Ende hin doch noch eine regelrecht mitreißende Zärtlichkeit.
Wir haben „A Piece Of Sky“ im Rahmen der Berlinale 2022 gesehen, wo er als Teil des offiziellen Wettbewerbs gezeigt wurde.