Ich bin zuversichtlich, dass über Encanto noch viel gesprochen werden wird, denn so platt Disney Klischee wie hier manche User von sich behaupten ist der Film nicht. Zwar geht es um die besagte kunterbunte Familie mit kolumbischen Rhythmen und spanischen Sprachflair und den magischen Gaben und natürlich ist es genau das was man bei einem Disney Film erwartet, viel Herz und viel Musik, aber es gibt doch zwei Aspekte, die mich so wirklich überrascht haben und die Encanto sehenswert machen.
Zuerst einmal ist Mirabelle eindeutig eine Art Anti-Charakter als Hauptbesetzung. Sie ist das Mädchen von neben an und bis zum Schluss und darüber hinaus wird niemand sie je als richtige Disney-Prinzessin sehen, sondern als Mädchen/junge Frau, die nicht wirklich priviligiert geboren ist, auch keine Häuptlingstochter oder sowas. Sie ist ohne besondere Fähigkeiten in eine etwas spezielle Familie geboren, die ihre magischen Fähigkeiten aber auch nicht aus einer langen Tradition großer Zauberer schöpft oder sowas, sondern einfach aus einem Wunder in der Not. Encanto hat damit eine sehr bodenständige Heldin geschaffen, die das Prinzessin-Klischee doch hinter sich lässt und die eher den Kampf führt, den wir alle führen - akzeptiert zu werden, so wie man ist, Teil einer halbwegs funktionierenden Familie zu sein und irgendwas mit dem eigenen Leben anzustellen, was Sinn stiftet und einen in den Augen der Familie nicht zum Versager macht. Mirabelle ist angenehm normal und trotzdem eine Heldenfigur zu der man aufschauen lernt. In meinen Augen ein tolles modernes Vorbild für heutige Kinder.
Und dann bearbeitet Disney doch einige Stoffe, die so nicht typisch Disney sind. Ein großer Punkt ist die Kritik am Perfektionsdenken und Leistungsdruck unserer Zeit. Sie springt einem nicht sofort in die Augen, aber sie mausert sich doch zu einem zentralen Thema. Am deutlichsten wird das in den Liedern von Luisa und Isabella. Luisa ist ein ziemlich cooler, weiblicher Charakter, den man so von Disney auch noch nicht gesehen hat. Sie ist ein Mädchen, aber ihre Gabe ist die Superstärke. Sie hat riesen Muskeln und unbändige Kräfte und kann buchstäblich Berge versetzen. Sie ist auf eine Art burschikos, aber doch auch auf eine andere gerne Mädchen. Aber dennoch wird deutlich, dass sie mit dem Druck und der Erwartungshaltung an Sie Probleme bekommt. Sie beschreibt sehr gut, alles was man fühlt, wenn man in einer Krise ist und eigentlich kurz vor dem Burn Out steht und dass sie das Gefühl hat, wenn sie ihre Aufgabe nicht mehr schafft all die Probleme der Welt zu schultern, sie sich wertlos und schwach fühlt. Isabella dagegen ist die typische Prinzessin, wunderschön und sie kann Blumen erblühen lassen, der Inbegriff der Disney-Prinzessin oder unserer Instagram-Träume deren Höhepunkt ihre Verlobung /Verheiratung darstellen soll, bis zu dem Moment an dem klar wird, dass genau das von ihr alle erwarten und sie sehr damit kämpft diesen Erwartungen gerecht zu werden. Am Ende muss sie lernen die Perfektion loszulassen, sich zuzugestehen dass der traumhaft vorgezeichnete Weg nicht ihr Traum ist und dass sie auch Ecken und Kanten haben darf und auch ihre Optik verändert sich. Sie entwickelt sich weiter und bekommt neue Facetten.
Zwar raubt das Ende des Films diesen Themen ein klein wenig das Licht und am Ende ist natürlich alles gut, aber dennoch fand ich, dass es in einem Disneyfilm noch nie so deutlich um Burn-Out, Überlastung, zu hohen Erwartungen und Kritik am Perfektionismus ging wie in Encanto.
Und was mir noch aufgefallen ist. Die Songs von Luisa und Bruno sind wirklich sehr stark. Schon von einem Mal hören tippen die einem auch noch drei Tage später durchs Gehirn. Allerdings finde ich die deutschen Texte nicht ganz so stark. In dem Punkt bin ich tatsächlich für die englischsprachige Version. Da ist noch mehr Tiefgang hinter und da sind noch mehr Feinheiten drin. Auch wegen der lateinamerikanischen Rythmen knallt der deutsche Text nicht ganz so, aber englisch absolute Ohrwürmer.
Im ganzen sehenswert und definitiv min. 4 Sterne wert.