Mein Konto
    Flee
    Kritik der FILMSTARTS-Redaktion
    4,5
    hervorragend
    Flee

    Ein Highlight unter den Animadoks

    Von Ulf Lepelmeier

    Im Animadok-Genre werden dokumentarische Inhalte mit Hilfe der Animationskunst vermittelt: Wahre Geschichten können so auch dann zum Leben erweckt werden, wenn kein dokumentarisches Originalmaterial vorhanden ist. Auch Erinnerungen und (Alp-)träume können so visualisiert und damit erfahrbar gemacht werden. Wie eindringlich diese hybride Filmform sein kann, verdeutlicht nun der animierte Dokumentarfilm „Flee“, der die erschütternde Odyssee des afghanischen Flüchtlings Amin in handgezeichneten Bildern einfängt.

    Regisseur Jonas Poher Rasmussen lässt den Zuschauer an der Traumabewältigung eines Freundes aus Schultagen teilhaben, der sich seiner Vergangenheit stellen und zu sich selbst finden muss, um sein Glück im Leben finden zu können. Ein kluges und involvierendes Animadok-Highlight im Geiste von Ari Folmans „Waltz With Bashir“. Kein Wunder also, dass „Flee“ nicht nur als Favorit für den Oscar als Bester Dokumentarfilm gilt, sondern von Dänemark außerdem als Beitrag für die Kategorie Bester internationaler Film bei den Academy Awards eingereicht wurde.

    Amir will mit seinem Lebenspartner unbedingt noch vor der Hochzeit reinen Tisch machen.

    Amin lebt als erfolgreicher Wissenschaftler mit seinem langjährigen Lebensgefährten Kasper in Kopenhagen. Obwohl die beiden ihre Hochzeit planen und sich nach einem gemeinsamen Haus umschauen, plagen Amin Gewissensbisse, da er selbst seinem Partner seine wahre Lebensgeschichte bisher nicht anvertrauen konnte. Er flüchtete als Kind aus seiner Heimat Afghanistan nach Russland und musste sich in Moskau gemeinsam mit seiner Mutter und seinen Geschwistern mehr als fünf Jahre lang weitestgehend in einer Wohnung versteckt halten, bis er schließlich als unbegleiteter Minderjähriger Dänemark erreichte.

    Von da an hielt er sich an die gefälschten Angaben, die ihm die Menschenhändler einbläuten. Doch nun möchte sich Amin im Gespräch mit Jonas Poher Rasmussen seiner Vergangenheit stellen, bevor er seinen Partner damit konfrontieren kann. Er möchte wieder zu sich und seiner wahren Identität finden, bevor diese vollständig in seiner aus Angst angenommenen alternativen Lebensgeschichte untergeht…

    Die Zeichnungen verschwimmen mit den Erinnerungen

    In seinem Animations-Meisterwerk „Waltz With Bashir“ näherte sich Regisseur Ari Folman seinen eigenen Erinnerungen an das Massaker von Sabra und Schatila im Libanon-Krieg an und stellte sich seinen immer wiederkehrenden Alpträumen von seiner Zeit als israelischer Soldat im Kriegsdienst. Der dänische Regisseur Jonas Poher Rasmussen nutzt nun eine ganz ähnliche Herangehensweise, um seinem aus Afghanistan stammenden Schulfreund die Chance zu geben, sich mit seiner traumatischen Vergangenheit auseinanderzusetzen. Zum einen ermöglicht die gewählte animierte Darstellung die angestrebte Anonymisierung des hier Amin genannten, illegal nach Europa migrierten Afghanen, der sich einer Therapiesitzung gleich dem befreundeten Regisseur mit seiner stets verdrängten Lebensgeschichte anvertraut.

    Zum anderen lassen die handgezeichneten Animationen die Vergangenheit des jungen Mannes lebendig werden. Realistische Animationssequenzen mit klarer, kantiger Linienführung spiegeln dabei Amins Erinnerungen wider. Durchbrochen werde diese von kurzen Ausschnitten aus News- und TV-Beiträgen aus den jeweiligen Zeitabschnitten. Der Zeichenstil wird dabei umso abstrakter, je weniger Amin sich an die Schilderungen zurückerinnern kann und bekommt gar einen skizzenhaften Charakter, wenn es sich um Ereignisse handelt, die er nur vom Hörensagen berichten kann oder die ihn besonders bewegen. Die Verabschiedung seines Vaters, der als möglicher politischer Dissident abgeführt wurde und nie wieder zu seiner Familie zurückkehren sollte, wird so in schemenhaften fließenden Animationen geschildert.

    Gerade das Outing vor seinen Verwandten ist für Armin ein besonders schwerer Moment - und einer der emotionalen Höhepunkte des Films.

    Nach Auszeichnungen in Sundance, Annecy und beim Europäischen Filmpreis werden „Flee“ gute Chancen eingeräumt, als erster Film überhaupt für die drei Oscarkategorien Bester Animationsfilm, Bester Dokumentarfilm sowie Bester Internationaler Film nominiert zu werden. Der schlichte Titel von Rasmussens animiertem Dokumentarfilm steht dabei nicht nur für die physische Flucht aus Afghanistan, sondern auch für eine psychologische Flucht vor sich selbst, der sich Armin nun stellen muss.

    Er möchte sich mit seiner Lebensgeschichte versöhnen und sich als homosexueller Flüchtling selbst akzeptieren, um sich auf sein Leben mit seinem zukünftigen Ehemann wirklich einlassen zu können. Wie schwer es ihm dabei fällt, die Ereignisse aufzuarbeiten und ihn die aufgebaute Lebenslüge belastet, unterstreichen eindrücklich die Audioaufnahmen der persönlichen Gespräche zwischen ihm und dem Regisseur, welche im Zusammenspiel mit den Animationssequenzen eine unheimliche emotionale Wucht entfalten und dem Dokumentarfilm die notwendige Authentizität verleihen.

    Animierte Angstgefühle

    Trotz vieler Zeitsprünge bleibt der rote Faden der ergreifenden Geschichte beständig bestehen, so dass sich eine sehr persönliche Reise in die Erfahrungswelt eines Flüchtlings auftut, die einen einzigartigen Blick auf Heimatlosigkeit und Flucht eröffnet. „Flee“ schildert nicht nur die unmenschlichen Bedingungen der illegalen Grenzüberschreitungen, sondern fängt insbesondere die Ängste vor dem Unbekannten, das ewige Ausharren im Exil und auch das fortwährende beklemmende Gefühl des Außenseiterdaseins in der Fremde ein. Insbesondere in Russland, aber auch später in Dänemark lernt Amin auf harte Weise, dass er seine Vergangenheit verleugnen muss, um voranzukommen und nicht angreifbar zu sein.

    Dabei fühlt sich Amin nicht nur aufgrund seines Migrantenstatus, sondern auch wegen seiner Homosexualität als nicht Dazugehörender, der ständig auf der Hut sein muss. Für eine sehr lange Zeit hält er auch seine sexuelle Identität verborgen. Er nahm seine Veranlagung für viele Jahre als gesellschaftlich geächtete Krankheit wahr und traute sich nicht, sich jemandem bezüglich seiner Gefühle anzuvertrauen. So stellt die nicht geplante Outing-Situation vor seinen Verwandten, vor der er sich seit seiner Jugend fürchtet, dann auch einen ganz besonders aufwühlenden und bewegenden Moment innerhalb des Films dar.

    Fazit: Jonas Poher Rasmussen setzt sich in seinem herausragenden Animadok-Film mit der Suche nach Heimat, verlorener Identität und Vergangenheitsbewältigung auseinander. Bewegend und eindringlich erzählt „Flee“ von der Auseinandersetzung mit einer traumatischen Flucht sowie dem inneren Ringen, zu sich selbst und der eigenen Vergangenheit stehen zu können.

    Möchtest Du weitere Kritiken ansehen?
    Das könnte dich auch interessieren
    Back to Top