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    Der Pianist
    Kritik der FILMSTARTS-Redaktion
    4,5
    hervorragend
    Der Pianist
    Von Ulrich Behrens

    Es gibt keinen endgültigen Film über die „Endlösung der Judenfrage“. Weder „Schindlers Liste“ noch Roman Polanskis neuer Film über das Schicksal des polnischen Pianisten Wladyslaw Szpilman (1911-2000), noch Benignis „Das Leben ist schön“ ändern daran etwas. Das Endgültige, was in uns ist, ist die Hoffnung, der Wunsch, die Erwartung. Kein Buch, kein Film, kein Aufsatz, kein Gedicht können diese dunkle Distanz, dieses schwarze Loch überwinden, das zwischen der Erfahrung und uns besteht. Filme über den Holocaust – welchen Pfaden und welcher Dramaturgie sie auch immer folgen mögen – sind der schrecklichste Beweis für diese Ferne des Grauens, eine zeitliche, eine räumliche, vor allem existenzielle Ferne und Unnahbarkeit, die weder im Dokumentarischen, noch im Fiktiven überwunden werden kann. Der Verstand versagt im Angesicht des vernichtenden Verstandes der Barbarei.

    Der Pianist Wladyslaw Szpilman (Adrien Brody) lebt mit seiner Familie, Vater, Mutter, Brüdern, Schwestern im Warschau der 30er Jahre, als die deutschen Truppen, die SS, die Schlächter in die polnische Hauptstadt 1939 einmarschieren. Szpilman spielt im Radio Chopins Nocturne in cis-Moll, als heftige Gefechte in der Stadt ihn unterbrochen. Der Sender wird ebenfalls beschossen. Wie alle anderen Juden wird auch die Familie Szpilman in das Ghetto gezwungen. Eine hohe Mauer trennt das Ghetto vom Rest der Stadt. Nur Wladyslaws Bruder Henryk (Ed Stoppard) ahnt, was auf sie und alle anderen zukommt, während die Schwester Halina (Jessica Kate Meyer) noch daran glaubt, es mache Sinn, den Teil des Geldes der Familie, der den von den Deutschen verordneten zulässigen Betrag übersteigt, in einem Blumentopf und in der Geige des Vaters zu verstecken. Es gibt für die 360.000 jüdischen Einwohner – von denen 20 die Vernichtungslager überleben werden – keine Chance, dem ihnen von den Nazis gewiesenen Weg zu entkommen. Die Nazis spielen mit den auserkorenen Feinden. Was für sie vorübergehende Vernutzung von Arbeitskraft, erscheint ihren Opfern als Schimmer der Hoffnung. Doch der Besitz von Arbeitspapieren im Ghetto ist nur ein vorübergehender Aufschub für den bald folgenden Abtransport in Güterwaggons nach Treblinka oder Auschwitz. Wladyslaw wird durch einen ihm bekannten jüdischen Aufseher von seiner Familie getrennt und kann dem Transport in die Vernichtung entkommen. Mit Hilfe einer polnischen Freundin und ihres Mannes kann er in einer leer stehenden Wohnung unterkommen. Für ihn beginnt eine Zeit der Einsamkeit, des Versteckens, der Flucht – bis er kurz vor Ende des Krieges in der zerbombten Stadt von dem deutschen Offizier Wilm Hosenfeld (Thomas Kretschmann) in den Trümmern eines Hauses entdeckt, aber nicht ermordet wird. Hosenfeld bringt ihm Essen und als er und die anderen Wehrmachtsangehörigen die Stadt verlassen müssen, weil die sowjetischen Truppen sich nähern, seinen Soldatenmantel ...

    Roman Polanski, der selbst mit seinem Vater dem Krakauer Ghetto entkam, aber seine Mutter in Auschwitz verlor, hat einen Film gedreht, der sich weitab von einer ansonsten fast surrealen Dramaturgie in seinen bisherigen Filmen eines scheinbar dramatisch-dokumentarischen Stils bedient. „Der Pianist“ folgt den klassischen Regeln des Dramas. Ein „Held“ bewegt sich durch die Wirren und Risiken, Gefahren und existenziellen Bedrohungen seiner Zeit. Aber damit erfasst man Polanskis Inszenierung nur unzureichend. Pawel Edelman (Kamera) und Allan Starski (Bauten) gestalteten vor allem einen Raum für dieses Drama, der bis in die Details eine Raumerfahrung ermöglicht, die überwältigend „schön“, zugleich kalt und unnahbar wirkt. Diese Art der Inszenierung ist eine ganz andere als etwa Benignis Verbindung von Komik und Schrecken. Sie rührt während des Sehens auf eine erschreckende Weise nicht an. Auch ich (1) vergoss während der über 148 Minuten erst Tränen, als Szpilman nach 1945 in der Schlussszene wiederum Chopins Nocturne in einem Konzertsaal spielte – eine Situation der existenziellen Sicherheit und der befreienden Musik, eine ganz andere Raumerfahrung, ein Raum der Verbundenheit über Musik und damit über eine Möglichkeit dessen, was Zuneigung bedeutet. Es ist diese Diskrepanz im Pathetischen, die Polanskis Film auszeichnet, die Dopplung des Pathetischen in die Kälte der Bilder des Grauens und in die Situation „danach“. Polanski zeigt den Schrecken in einer oberflächlich unpathetischen Inszenierung. Der Raum ist zunehmend erfüllt von der Brutalität der SS einerseits und der Hilflosigkeit, der Angst der Eingepferchten andererseits. Polanski zeigt dies mit einer Nüchternheit, geradezu Selbstverständlichkeit, die einem die Sprache verschlägt. Er setzt nicht auf das Mitgefühl, die Emotion überhaupt, oder auf Vitalität. Man hört kaum ein Schreien, Geräusche spielen eine untergeordnete Rolle, ebenso die Musik, außer zu Anfang und Schluss des Films.

    Die Menschen durchwandern die Hölle, sie werden auf dem Boden liegend von einem SS-Mann mit der Pistole erschossen. Eine Frau, die es wagt, eine Frage zu stellen, erhält einen Kopfschuss. Niemand weint, zeigt Rührung, alles ist von Angst erfüllt, und doch ruhig, fast gelassen. Der Kälte der Bilder entspricht nur die Wut, die Wut über das, was dort vor sich geht. Als die wenigen überlebenden Juden und etliche Polen einen Aufstand wagen, steht Szpilman am Fenster seines Verstecks, einer Wohnung, die direkt neben dem Ghetto liegt, beobachtet still, und doch innerlich aufgewühlt, was dort vor sich geht. Man hofft, obwohl man weiß, dass der Aufstand gescheitert ist. Man freut sich über jeden toten deutschen Soldaten. Ebenso als kurz vor Einmarsch der sowjetischen Truppen polnische Widerstandskämpfer in die Straße kommen, in der Szpilman nun – direkt gegenüber einem Lazarett der Wehrmacht – versteckt ist. Etliche deutsche Soldaten sterben – und es hat mich gefreut. Ich empfand Genugtuung.

    Genugtuung z.B. auch für einen anderen Vorgang, als Szpilman aus der Ghettomauer einen kleinen Jungen herauszuzerren versucht und auf der anderen Seite, unsichtbar für uns dessen Verfolger auf ihn einprügeln, bis er tot ist. Szpilman zieht die Leiche zu sich herüber. Wladyslaw Szpilman wirkt wie einer, der sich seinem Schicksal hingibt, nicht indem er sein Leben aufgibt, sondern sich auf die sich ständig verändernden Bedingungen der Verfolgung einstellt. Ebenso seine Helfer, die Sängerin und ihr Mann, der polnische Mann, der ihn versteckt. Alle scheinen sich eingestellt zu haben, unter diesen Bedingungen ihr Leben weiterführen zu müssen. Was Polanski hier inszeniert, hat etwas von einer erschreckend anderen Normalität, der Normalität der Illegalität, Verfolgung, existenziellen Bedrohung, einer Normalität, auf die sich die Verfolgten einlassen (müssen), aber eben ohne die pathetische Anklage, die den Zuschauer des Films in den Bann ziehen würde. Was hier in den Bann zieht, störend, verstörend, auf Dauer, nach dem Film, fast irrsinnig, das ist dieses Leben in einer Situation der chronischen Lebensgefahr. Immer deutlicher geht es in „Der Pianist“ nur noch um Szpilman, sein Durch-Kämpfen, seine Flucht, sein Leben. Immer weniger sieht man andere, außer hier und da seine Verfolger. Am Schluss steht er in einer (technisch betrachtet: digital überarbeiteten) Trümmerlandschaft, allein, als wenn er der einzige Überlebende eines Atombombenangriffs wäre. Schutt, Asche, Trümmer; es ist alles zerfallen, nur noch Szpilman, der letzte Überlebende einer Menschheit, die sich selbst vernichtet hat?

    Polanski reißt den Betrachter des Jahres 2002 sehr schnell wieder aus dieser Fiktion. Szpilman hört Stimmen. Und wenn er Stimmen hört, reagiert er wie automatisch – flüchten, verstecken, er hat Hunger, er sucht, er versteckt sich wieder, er schaut durch die Schlitze und zwischen den eingerissenen Häusern hindurch, er findet eine Konserve, hat aber kein Werkzeug, um sie zu öffnen. Er klemmt sie sich unter den Arm, beschützt sie wie den letzten Rest dessen, was ihn am Leben halten kann. Szpilman ist jetzt nicht nur Wladyslaw Szpilman, er steht jetzt für den Rest an Hoffnung, an Menschsein, an Leben, an lebenswertem Leben in dem zerstörten Warschau. Er hat Glück, als ihn der deutsche Offizier (2) am Leben lässt, ihm zu Essen gibt, ihn nicht verrät. Das Glück ebnet ihm den Weg. Es ist ebenso willkürlich, dass Szpilman auf Hosenfeld trifft wie alles andere, was die Jahre zuvor seit 1939 geschehen ist. Diese Welt ist unberechenbar, der Erzählstil, den Polanski benutzt, dem angepasst. Es ist diese merkwürdige Erzählung im Sinne von Aufzählung, die ihm wohl nötig erschien, weil das Unberechenbare, das Willkürliche nicht mehr als aufgezählt werden kann. Es entbehrt einer inneren Logik und alle Versuche, etwas Ursächliches, eine Kausalkette in es hineinzubringen, scheitern, bleiben äußerlich, wirken aufgesetzt.

    „Der Pianist“ ist nicht konsumierbar im Sinne einer maßgeschneiderten Produktion à la Hollywood. Polanski lehnt derartiges ab. Und seine Worte mögen das verständlich machen: „So weit ich zurückdenken kann, ist in meinem Leben die Grenze zwischen Phantasie und Wirklichkeit hoffnungslos verwischt gewesen.“ Jetzt, mit fast 70, widmet er sich dem Anfang dieser Verwischung – in einer Fiktion, einem filmischen Alptraum, der u.a. das hinterlässt, was ich gerade beim Schreiben noch immer empfinde: die Eiseskälte, die Wut und eine Art existenzielle Hoffnung, am Schluss des Films überwältigend durch die Musik Wladyslaw Szpilmans dargetan. Er hat fast alle seiner Peiniger, die Schinder und Mörder seiner Eltern und der Millionen anderen überlebt. 2000 ist er gestorben. Adrien Brody kommt diesem Mann, der sich durchschlägt, der leidet, aber ohne das falsche (?) Pathos, das „nur“ auf das Publikum abstellt, sehr nahe, so nahe, dass er gegen den Raum des Schreckens steht und doch zugleich in ihm ist. Er steht für den letzten „Rettungsanker“ einer Menschheit, die das auch alles irgendwie zugelassen hat.

    Es gibt scheinbar kein „Dazwischen“ der Emotionen in Polanskis Film. Man steht mit Szpilman in diesem unerträglichen und doch unvermeidlichen Raum einer absonderlichen, skrupellosen Normalität. Das „Dazwischen“ ist andererseits trotzdem vorhanden: die Diskrepanz zwischen dem, was Wladyslaw Szpilman erlebt hat und wir nicht. Auch „Der Pianist“ ist der (wiederholte und immer wiederholte notwendige) Versuch, die Geschichte des Holocaust „in unsere Kultur einzuschreiben“ (Georg Seeßlen), ein Versuch, der immer wieder scheitert und immer wieder scheitern muss, weil er das Menschliche gegen die Zeichen des Terrors, des Willkürlichen, des Unfassbaren, Ungreifbaren setzt und setzen muss. Trotzdem gibt es ein Verbindungsglied zwischen „ihm“ (Szpilman) und uns: sein unbändiger Wille zum Leben, nicht nur zum Überleben. Filme über den Holocaust lehren uns, wenn wir es wollen, und wir sollten es unbedingt wollen, von den Grenzen des Kinos, der Bilder, die wir uns auch außerhalb der Welt des Films machen. (3). Filme sind in der Lage, Mythen zu kreieren, Mythen auch über den Holocaust, die sich tief in unser Verständnis historischer Prozesse einnisten und Bilder produzieren können, die sich für bare Münze nehmen (lassen). „Der Pianist“ steht jedenfalls nicht in einer solchen Tradition, weil er das missing link zwischen dem Unerfahrenen und uns für eine kurze Zeit aufleuchten lässt, lassen kann.

    (1) Vgl. Simone Mahrenholz über den Film im Tagesspiegel „Flucht in die Hölle“:

    http://archiv.tagesspiegel.de/archiv/23.10.2002/270109.asp

    (2) Zur Person von Wilhelm Adalbert Hosenfeld, der 1952 in einem sowjetischen Lager ums Leben kam, vgl. „Die Welt“: „Spielen Sie was“:

    http://www.welt.de/daten/2002/10/24/1024kfi364174.htx

    (3) In dieser Hinsicht empfehle ich die Lektüre der Besprechung des Films durch Georg Seeßlen in der „Zeit“ sowie seinen Aufsatz „Echt ist uns nicht echt genug“ in der „taz“:

    http://www.taz.de/pt/2002/10/24/a145.nf

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