So grandiose Action gehört eigentlich auf die große Leinwand!
Von Björn BecherMit dem Netflix-Original „Tyler Rake: Extraction“ lieferte der langjährige Stuntman und Stunt-Koordinator Sam Hargrave ein imposantes Regiedebüt, mit dem er in verschiedenen Sequenzen wiederholt aufzeigte, was im modernen Actionkino inzwischen alles möglich ist. Vor allem eine Autoverfolgungsjagd durch die überfüllten Gassen von Dhaka scheint auch dank der ungewöhnlichen Wahl der Perspektiven an Imposanz, Rasanz und Nervenkitzel kaum noch zu überbieten. Mit der ebenfalls exklusiv für den Streamingdienst produzierten Fortsetzung „Tyler Rake: Extraction 2“ knüpft Hargrave nahtlos an die Qualitäten des Vorgängers an – wobei vor allem die zentralen Action-Set-Pieces jeweils mit ebenso spektakulär-intensiven wie knüppelharten One-Shot-Sequenzen begeistern.
Doch bei der erneut von den „Avengers 3 + 4“-Masterminds Joe und Anthony Russo produzierten Fortsetzung werden auch einige der Fehler des Vorgängers wiederholt. Das von Joe Russo persönlich geschriebene Skript ist einmal mehr mit Bedeutungsschwere und Figurenhintergrund unnötig überladen, was gerade im Mittelteil für einige Längen sorgt. Da man inzwischen offensichtlich auf ein größeres Franchise schielt, dürfen zudem auch Andeutungen zu weiteren Filmen nicht fehlen. Das bläht „Extraction 2“ von einem herausragenden 90-minütigen Action-Fest auf einen „nur“ ziemlich guten zweistündigen Franchise-Starter auf.
Tyler Rake ist zurück!
Im Finale von „Extraction“ haben wir eigentlich gesehen, wie der auf eigentlich unmögliche Befreiungs-Aktionen spezialisierte Söldner Tyler Rake (Chris Hemsworth) in Dhaka ums Leben kommt. Aber nun wird er eben doch wieder aus dem Wasser gefischt und ist nach einiger Zeit im Koma sowie einer „Rocky“-Trainingsmontage auch schon wieder ganz der Alte. In einer abgelegenen Berghütte in Österreich „genießt“ er gerade seinen zwangsverordneten Ruhestand, als ihn doch noch ein Auftrag erreicht: Er soll Ketevan (Tinatin Dalakishvili) mit ihren zwei Kindern aus einem georgischen Gefängnis herausholen. Dort hält der inhaftierte und schrecklich besitzergreifende Clanboss Davit (Tornike Bziava) seine Familie quasi als Geiseln.
Weil er eine persönliche Verbindung zur Zielperson hat und zudem die Chance sieht, für die Sünden seiner eigenen Vergangenheit Abbitte zu leisten, nimmt Rake den Auftrag an – und schon wenig später tritt er gemeinsam mit seiner Einsatzleiterin Nik (Golshifteh Farahani) und deren Bruder Yaz (Adam Bessa) in Georgien in Aktion. Doch bei der Befreiung geht von Beginn an ziemlich viel schief. Auch weil der junge Sandro (Andro Japaridze) gar nicht so richtig von seinem Gangster-Vater weg will, haben Rake und Co. bald die ganze Privat-Armee von Davits brutalem, keine Grenzen akzeptierendem Bruder Zurab (Tornike Gogrichiani) auf dem Hals…
Sam Hargrave hat eine klare Vorstellung von Actionszenen, die er auch in „Extraction 2“ konsequent und gekonnt umsetzt: Bei ihm herrscht vordergründig zwar oft das pure Chaos, doch dahinter steckt eine klar geplante Choreografie, die sich vor allem in sehr langen Einstellungen ohne sichtbaren Schnitt zeigt. Bereits die erste große Actionsequenz, die insgesamt satte 21 Minuten ohne sichtbaren Schnitt durchpowert, ist der beste Beweis dafür! Wenn Tyler Rake die Familie aus dem Gefängnis holen will, läuft der eigentliche Plan einer leisen, verdeckten Operation schnell aus dem Ruder. Bei einem losbrechenden Gefängnisaufstand kracht es dann an allen Ecken und Enden. Es prügeln sich hunderte Gefangene mit Wärtern – und mitten durch dieses Getümmel müssen Rake und Ketevan den Gefängnishof überqueren.
Hargrave gelingt es in dieser ein wenig an den starken Beginn des Netflix-Dramas „Athena“ erinnernden Sequenz erneut, dass sich seine (ultrabrutale) Action extrem authentisch anfühlt. Man hat nie den Eindruck, dass man einer Choreografie folgt, wo an den Rändern des Bildes die nächsten Stuntmen auf ihren Einsatz warten. Hier scheint es vielmehr überall die ganze Zeit zu krachen – als ob auch außerhalb des Bildes die ganze Zeit gekämpft würde. Mittendrin schlägt und schießt „Thor“-Star Chris Hemsworth sich da halt einfach irgendwie durch, während rechts und links neben ihm Dinge explodieren und andere brutale Gewaltakte verübt werden. Der beeindruckende Wahnsinn, in dem Hemsworth teilweise mit brennenden Gliedmaßen auf seine Widersacher einprügelt, ist schon jetzt eine der herausstechenden Top-Szenen des Action-Jahres 2023!
21 Minuten brachiale Action am Stück!
Mit dem Beginn des Ausbruchs erreicht „Extraction 2“ direkt eine Intensität, die lange Zeit keinen Raum zum Durchatmen gibt. Denn auch jenseits der Gefängnismauern gibt es weder Schnitte noch Ruhepausen. Die anschließende Verfolgungsjagd mit Autos, Helikoptern und einem schwerbewaffneten Zug macht einfach immer weiter und weiter, während sich die Opferzahl im Dutzend nach oben schraubt. Natürlich gibt Hargrave auch einfach ein Stück weit an, indem die Kamera immer wieder neue Perspektiven einnimmt – mal mitten im Auto mitfährt, dann direkt in eine Außenperspektive überwechselt. Man kann sich da nur entfernt vorstellen, was für einen Knochenjob die Kamera-Operatoren geleistet haben müssen, die selbst oft einen Stunt-Hintergrund haben und aus aberwitzigen Positionen gefilmt und sich gegenseitig die Kamera weitergereicht haben müssen. Aber Angeberei hin oder her – das alles ist einfach wahnsinnig beeindruckend.
Hargrave vermeidet es auch, sich zu wiederholen. Keine Szene wirkt wie ein Neuaufguss des Vorgängers oder wie eine Variation einer früheren Sequenz im Film. Visuell zahlt es sich zudem aus, dass der durchaus etwas nervige Gelb-Filter des Vorgängers verworfen wurde. Nach der regelrecht herbeigesehnten Ruhepause geht es später auf den oberen Stockwerken eines Wiener Luxushotel weiter, wo der Regisseur dann luftige Höhe und gläserne Böden gekonnt für Nervenkitzel einsetzt und nicht nur Hauptdarsteller Chris Hemsworth, sondern auch Co-Star Golshifteh Farahani („Huhn mit Pflaumen“) in viele Nahkämpfe mit den zahlreichen muskulösen und schwerbewaffnen Schergen von Zurab schickt.
Als Haupt-Handlanger des Bösewichts mischt auch Stunt-Experte Daniel Bernhardt mit, den Hargrave schon von gemeinsamen Arbeiten an Filmen wie „Atomic Blonde“, „Captain America: Civil War“ oder „Birds Of Prey“ kennt. Action-Fans, welche Bernhardts Arbeiten kennen, dürften sich den ganzen Film über ausmalen, was uns am Ende wohl für ein Kampf erwarten wird, wenn er beim Vor-Showdown auf Hemsworth trifft. Die Konfrontation ist dann zwar blutig und intensiv, geht aber auf den ersten Blick überraschend schnell zu Ende – und auch noch ohne die vollen Nahkampfähigkeiten des Martial-Arts-Könners abzurufen.
Doch das macht durchaus Sinn, schließlich steht ja noch der Showdown gegen den Ober-Bösewicht an. Und wie schon beim Vorgänger versteht es Hargrave durchaus, dass Action, Action und nochmals Action selbst bei seiner inszenatorischen Klasse irgendwann ermüdend kann, das Publikum auch mal Verschnaufpausen braucht und hier noch mal zwei lange Fights wohl einfach zu viel gewesen wären. Trotzdem sind die Story-Einschübe zwischen dem Dauer-Spektakel erneut die größte Schwäche, weil sie eben viel mehr als ein kurzes Durchatmen sind, sondern sich mitunter doch ganz schön ziehen.
Daniel Bernhardt (ganz rechts) als einer der Handlanger des Bösewichts.
Wie schon beim Vorgänger bläst Drehbuchautor Joe Russo das recht simple Konzept unnötig auf. Der bereits aus dem ersten Teil bekannte Schuld-und-Sühne-Familienhintergrund der Hauptfigur mag wichtig sein, um seine Motivation zu erklären. Dass aber auch Bösewicht Zurab mehrere Rückblenden beschert bekommt, um uns immer wieder zu erklären, warum er nicht aufhört, Rake zu verfolgen, selbst als dieser die Grenzen Georgiens hinter sich lässt, ist unnötig. Denn trotz der verstörenden Szenen aus seiner Kindheit bleibt er ein recht eindimensionaler Fiesling, über den alles Nötige schon nach seinem ersten Auftritt gesagt ist.
An anderer Stelle hätte eine tiefere Ausgestaltung hingegen mehr Sinn gemacht. Dass Rake wenige Monate vor seinem Einsatz tot war und anschließend im Koma lag, scheint nach der kurzen Trainingsmontage, in welche er wortwörtlich Gehhilfen abwirft und sich wieder in Form bringt, keine Rolle mehr zu spielen. Spannungsfördernde Einschränkungen in der Auseinandersetzung mit einem übermächtigen Gegner? Weitestgehend Fehlanzeige. Erst wenn die Hauptfigur nach und nach neue Wunden sammelt, spielen diese als Handicap eine Rolle. Hier hätte man den von Chris Hemsworth erneut mit viel Körpereinsatz gespielten Supersoldaten auch als physisch und nicht nur als psychisch angeknackst präsentieren und so die Spannungsschraube noch weiter anziehen können.
Fazit: Wie Chad Stakelski („John Wick 4“), David Leitch („Bullet Train“) oder J.J. Perry („Day Shift“) gehört auch Sam Hargrave zu den Stunt-Experten Hollywoods, die nun selbst auf den Regiestuhl gewechselt sind. Dabei beweist er mit „Tyler Rake: Extraction 2“, dass der erfolgreiche Vorgänger keine Eintagsfliege war, sondern wir von ihm wohl noch reichlich spektakuläres Actionkino erwarten können – gerne in Zukunft dann auch mit besseren Drehbüchern.