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    Träume sind wie wilde Tiger
    Kritik der FILMSTARTS-Redaktion
    3,0
    solide
    Träume sind wie wilde Tiger

    Maximal farbenfrohe Gegensätze

    Von Nikolas Masin

    Obwohl das Bollywood-Imperium weltweit jährlich die meisten Spielfilme rauspfeffert, konnte die Hindi-Filmwelt im hiesigen Mainstream – abgesehen vom dann doch nur ein paar Jahre anhaltenden Shah-Rukh-Khan-Hype – bisher kaum Wellen schlagen. Für Grimme-Preis-Träger Lars Montag („How to sell drugs online (fast)“) und seine Crew ist das ein Missstand, dem sie nun mit dem filmischen Liebesbrief „Träume sind wie wilde Tiger“ entgegenzusteuern versuchen. Sie scheinen dabei tatsächlich schwer vernarrt zu sein in diese märchenhafte Subwelt voller musikalischer Tanzszenen und galantem Pathos. Auf kritische Worte gegenüber einer Industrie, die massivste Zensur betreibt und auch von staatlicher Seite erfährt, bleiben da wenig überraschend aus.

    Man folgt vielmehr der Zack-Snyder-Schule: Langfristig im Kopf bleiben wird der Film wohl primär für seine verlockende, beinahe überschwängliche Optik. Das Problem ist nur: Während aggressive Kontraste im Bild super als visueller Leckerbissen funktionieren, sorgt derselbe Ansatz bei Figuren und Plot für reichlich Schwarzweißmalerei. Auf der einen Seite Deutschland als farblos-dystopisches Betongefängnis, die Heimat von unerträglichen Spießbürgern, mobbenden Tough Guys und hoffnungslosen Nichtsnutzen. Demgegenüber steht das kunterbunte, scheinbar sorglose Indien samt Traumfabrik Bollywood. Da fällt es einem als Zuschauer*in natürlich sehr leicht, mit dem von Heimweh geplagten indischen Helden mitzufiebern, wenn dieser sich in prachtvolle Tagträume flüchtet. Und Spaß macht der äußerst kreative und kurzweilige Familienfilm ja auch.

    In Ranjis indischen Heimat ist alles maximal farbenfroh - und in Deutschland alles maximal farblos.

    Für den zwölfjährigen Inder Ranji (Shan Robitzky) bricht eine Welt zusammen, als seine Eltern mit ihm aus beruflichen Gründen nach Deutschland ziehen. Sein größter Traum, in einem Bollywood-Film mitzuspielen, scheint geplatzt. Doch als sein großes Idol Amir Roshan (Terence Lewis) ein Casting im indischen Mumbai ausruft, beschließt Ranji sich dennoch zu bewerben – gegen den ausdrücklichen Willen seiner Eltern. Die nötigen Tanz-Videos dreht er halt in Berlin. Eine der Anforderungen ist allerdings, dass auch ein Mädchen mittanzt. Ranjis neue Nachbarin, die gleichaltrige Toni (Annlis Krischke), wäre da eigentlich perfekt. Doch die Probleme machende Randaliererin möchte nichts mit ihm zu tun haben. Und die Abgabefrist endet schon in fünf Tagen...

    Wie ein kleiner König wird Ranji eingeführt, wenn dieser auf einem Lastenrad durch Mumbais Slums kutschiert wird, während mitlaufende Kinder Beutel mit Farbpulver um sich werfen als wären es Blütenblätter. Gerade eben konnte er bei einem Stranddreh seines Bollywood-Götzen in der Nähe zusehen. Der Strahlemann könnte glücklicher nicht sein – und gibt direkt, wie es sich in einer anständigen Bollywood-Produktion gehört, den ersten von vielen herzhaften Ohrwürmern zum Besten: Eine gesangliche Liebeserklärung an seinen Heimatort. Die schwerelose Atmosphäre steckt an – doch die wird gleich wieder gedämpft, als er von seinem Schicksal „Deutschland“ erfährt.

    Gegensätze – Der Film

    Ranjis miese Laune wird nur weiter befeuert, als das in pink, gelb und blau gekleidete Dreiergespann in der grauen Hauptstadt ankommt. Die Hochhauswohnung ist optisch so farblos, dass selbst die Zimmerpflanze im sterilen weiß daherkommt. Als der niedergeschlagene Ranji später durch die Stadt streift, sieht er ein Plakat mit einem grauen Gebäude – angebracht auf einem... grauen Gebäude. Er kickt einen rosa Luftballon in die Luft – das einzige farbige Element im Bild überhaupt. Visuell ist „Träume sind wie wilde Tiger“ immer wieder herausragend, aber gleichzeitig auch so ungeschmückt direkt, dass man sich fragt: Warum nicht gleich die letzten fünf Meter nach „Sin City“ gehen und das Bild – mit Ausnahme einzelner knalliger Elemente – gleich schwarzweiß schalten?

    Regisseur Lars Montag („Einsamkeit und Sex und Mitleid“) polarisiert alles, was sich auch nur polarisieren lässt. Dazu gehören neben der Optik auf inhaltlicher Ebene auch die Figuren und deren grundverschiedenen Lebensstile. Heraus kommt dabei leider eine Culture-Clash-Komödie ohne allzu viel Feingefühl. Die meisten Lacher möchte man herauskitzeln, indem die Karikaturen sämtliche Vorurteile bestätigen – oder sich diese gegenseitig vor den Latz knallen. Ein Musterbeispiel ist der ordnungsversessene und griesgrämige Vermieter mit Musikphobie. Über Ranji meint er gegenüber dessen Eltern: „Der guckt ja wie ein Selbstmordattentäter.“ Ob das nun geschmacklos ist oder nicht – dieser Humor ist einfach weder besonders clever noch ergiebig genug, um derart kontinuierlich aufgefahren zu werden.

    In Ranjis Fantasie verwandeln sich die Rentnerinnen im Bus in farbenfroh kostümierte Bollywood-Tänzerinnen.

    Dennoch gibt es die eine oder andere charismatische Ausnahme bei den Nebenfiguren: Ranjis „cooler Opa“ Daada (Irshad Panjatan) beispielsweise. Der weise Faxenmacher ist der größte Fanboy seines Enkels – und spricht ihm per Skype (Gesichtsfilter haben es ihm angetan) regelmäßig Mut zu, am Bollywood-Traum festzuhalten. Vor 20 Jahren konnte Daada nämlich mit der Rolle als Häuptling Listiger Lurch in „Der Schuh des Manitu“ seinen eigenen Schauspieltraum erfüllen (hier wird es ein wenig Meta: Darsteller Panjatan spielte die Figur tatsächlich). Und Frank (Simon Schwarz), der chaotische Vater von Nachbarsmädchen Toni, versucht sich vergebens als Erfinder maximal kurioser Instrumente. Sein Werkstatt-Sammelsurium ist so bekloppt wie einfallsreich (aktuell bastelt er an einer Plüschtier-Orgel). Schade nur, dass der Film den Erwachsenen hier genau die gegenteilige Botschaft wie den Kindern vermittelt. Nämlich in etwa: „Ab einem gewissen Alter musst du deine Träume aufgeben.“

    Aber auch das ist unterm Strich nur ein weiteres Symptom davon, wie pathologisch erpicht dieser Film darauf ist, zwischen allem und jedem einen Kontrast zu knebeln (bestimmt existiert irgendwo im Studio eine gigantische Mind-Map mit etlichen, sich kreuzenden Fäden). Während die nüchterne Toni also ihrem träumenden Vater den Ernst des Lebens erklären muss, steht der künstlerische Ranji seinem Statistik-Nerd-Vater gegenüber, welcher ständig den Satz „Leben ist wie Mathematik“ bekundet und wohl sowieso am liebsten ein Roboter wäre. Damit bilden dann auch Ranji und Toni selbst ein astreines Gegenpol-Duo. Weil das Gespann aber am meisten Leinwandzeit hat, können sie auf viel subtilere Weise voneinander lernen. So erkennt die distanzierte Toni allmählich den Unterschied von oberflächlicher und tatsächlicher Freundschaft – und der gnadenlos brave Ranji, dass man nicht immer zu 100 Prozent Prozent nach den Regeln spielen muss.

    Bei den Effekten und Sets wurde sich besonders ausgetobt

    Außer Frage steht, dass „Träume sind wie wilde Tiger“ gute Laune ohne Ende versprüht. Besonders ansteckend ist die Lebensfreude des fantastischen Nachwuchsdarstellers Shan Robitzky als Honigkuchenpferd Ranji. Auch die emotionaleren Szenen trägt er problemlos bei seinem ersten (!) kreditierten Filmauftritt. Und wenn der Allrounder zum ersten Mal sein Tanzbein schwingt und gleichzeitig mit Rauchbengalos die Luft bemalt, sind alle Zweifel begraben. Die abenteuerlichen Tagträume kauft man ihm sofort ab, wenn sich zum Beispiel die Rentnerinnen im Bus prompt in bunt geschmückten Tänzerinnen verwandeln – und das Kraftfahrzeug zum süßen Dschungelboot mutiert.

    Vom liebevollen Set-Design bis zu den kreativen Spezialeffekten – die optische Märchenisierung überrascht immer wieder mit kleinen und großen Ideen. Als Ranjis Vater ihm beispielsweise erklären will, dass er nur einer von Millionen Bollywood-Bewerbern ist und deshalb keine realistischen Chancen hat, wird das ganze Zimmer dank Ranjis reger Fantasie mal eben mit Reiskörnern geflutet. Das kompositorische i-Tüpfelchen kommt unterdessen ganz ohne fantastische Elemente aus, wenn Ranji und Toni vielfältigste Papierwelten basteln, welche dann – mit dem Laptop animiert – als Tanzhintergrund auf eine Leinwand projiziert werden. Bei so viel Kreativitätsüberschuss von Zwölfjährigen kann man eigentlich nur neidisch werden.

    Fazit: „Träume sind wie wilde Tiger“ zelebriert die Kreativität und dürfte viele junge Menschen mit seiner vergnüglichen Faszination für Bollywood anstecken. Bedauerlicherweise ist das exzessiv eingesetzte Stilmittel „Gegensätze“ aber nicht nur in den meisterhaften Bildern unübersehbar, sondern zieht sich auch durch jede Zeile des Skripts. Das führt zu oberflächlichen Figuren und wenig clever karikierten Kulturklischees.

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