Eine ansprechend verpackte Luftnummer
Von Lars-Christian DanielsMit ihrem fünften und bisher eindeutig stärksten Fall blieben die bis dato eher biederen „Tatort“-Kommissare aus Franken im Februar 2019 endlich einmal nachhaltig im Gedächtnis der Zuschauer haften: Sebastian Markas packender Bayreuther „Tatort: Ein Tag wie jeder andere“ lief fast in Echtzeit ab und gipfelte am Ende in einem überraschenden Twist, der nicht nur den verdutzten fränkischen Ermittlern, sondern auch dem TV-Publikum den Boden unter den Füßen weg zog. Die Millionen „Tatort“-Fans waren begeistert und kürten den Film auf einschlägigen Bewertungsportalen sogar zu einer der besten Folgen des Jahres.
Für den sechsten Fadenkreuzkrimi aus Franken, der diesmal in Nürnberg spielt, hat nun wieder ein Filmemacher auf dem Regiestuhl platzgenommen, der bereits bei zwei anderen (und nicht ganz so überzeugenden) Fällen mit Hauptkommissar Voss & Co. am Ruder saß: Regisseur Max Färberböck, der für den Bayerischen Rundfunk 2014 auch den herausragenden Münchner „Tatort: Am Ende des Flurs“ inszenierte, hat mit dem „Tatort: Die Nacht gehört dir“ ein erzählerisch ausgefallenes, lange Zeit undurchsichtiges und faszinierendes Krimidrama geschaffen. Als sich der Nebel langsam lichtet, kracht diese Faszination allerdings wie ein Kartenhaus in sich zusammen.
Paula Ringelhahn (Dagmar Manzel) und Felix Voss (Fabian Hinrichs) fehlt trotz frühem Geständnis lange Zeit der Durchblick.
Die Hauptkommissare Paula Ringelhahn (Dagmar Manzel) und Felix Voss (Fabian Hinrichs) werden an einen Tatort gerufen: Die erfolgreiche Salesmanagerin eines Immobilienkonzerns, Babs Sprenger (Anna Tenta), liegt erstochen in ihrer Wohnung. Gemeinsam mit den Kommissaren Wanda Goldwasser (Eli Wasserscheid) und Sebastian Fleischer (Andreas Leopold Schadt) sowie Spurensicherungsleiter Michael Schatz (Matthias Egersdörfer) finden die Ermittler heraus, dass Sprenger auf verschiedenen Dating-Portalen aktiv war und viele Männer getroffen hat. Ihren Geburtstag – den Vorabend der Ermordung – hat sie aber allein mit ihrer Kollegin Theresa Hein (Anja Schneider) verbracht, die schon nach der ersten Befragung ein Geständnis ablegt. Doch Voss und Ringelhahn ahnen, dass Hein etwas vor ihnen verbirgt…
Gleich zu Beginn der 1122. „Tatort“-Ausgabe dürfte sich so mancher Zuschauer wie im falschen Film wähnen und prüfen, ob er auch wirklich den richtigen Sender erwischt hat: Der aus Itzehoe nach Franken gezogene Kommissar Voss, der von der BR-Redaktion nach wie vor als einziger der Ermittler ein wenig Privatleben in die Drehbücher geschrieben bekommt, lässt sich in den Anfangsminuten nämlich zu einem langen Flirt auf dem Wochenmarkt hinreißen. Das hat mehr vom romantischen Sonntagsprogramm im ZDF als vom klassischen Einstieg in einen spannenden Krimi – rückt aber zum Glück schon bald in den Hintergrund, weil sein Gespräch mit einer namenlosen Honigverkäuferin (Maja Beckmann, wir kennen sie auch als „Sabbel“ aus „Stromberg“) jäh vom klingelnden Handy unterbrochen wird und erst sehr viel später wiederaufgegriffen wird.
Was dann geschieht, liest sich zunächst wie die Ouvertüre zu einem klassischen Whodunit, weil dem Auffinden der Leiche die Diagnose der Spurensicherung und ein Besuch im Arbeitsumfeld der Toten folgt – doch schon mit dem frühen Geständnis von Arbeitskollegin Hein verlässt Max Färberböck, der das Drehbuch zu seinem fünften „Tatort“ zum fünften Mal gemeinsam mit Catharina Schuchmann geschrieben hat, diese ausgetretenen Pfade wieder. Stattdessen beginnt eine Geschichte, die sich lange Zeit gar nicht richtig greifen lässt, weil sie so anders erzählt wird als in der öffentlich-rechtlichen Krimireihe üblich: Fragen der Ermittler bleiben bisweilen unbeantwortet im Raum stehen, die geständige Mörderin hüllt sich oft in hartnäckiges Schweigen, verschachtelte Rückblenden deuten eine rätselhafte Vorgeschichte an – und selbst die ausgefallene Tatwaffe, ein besonders scharfes und hochwertiges Sushi-Messer, scheint irgendein Geheimnis zu bergen.
Diese irritierende, seltsam undurchdringliche Erzähltechnik hat etwas Faszinierendes, ja fast Philosophisches – und wird zudem unheimlich stimmungsvoll in Szene gesetzt. So ist man es von Färberböck, dessen „Tatort“-Folgen schon allein an den dunklen Farbfiltern und den reduzierten Lichtverhältnissen zu erkennen sind, auch nicht anders gewohnt. Und doch wirkt nicht alles aus einem Guss: Der Soundtrack besteht aus melancholischen Stücken der Klassik und Popmusik, die meist nur wenige Sekunden angespielt und schnell wieder ausgefadet werden – das wirkt irgendwann eher ermüdend, als dass die über weite Strecken starke Atmosphäre dadurch sinnvoll verstärkt würde.
Was dem handwerklich so überzeugenden Film in seiner zweiten Hälfte aber komplett das Genick bricht, ist nicht etwa seine feine, bisweilen etwas übertrieben künstlerische Ästhetik, sondern der halbgar ausgearbeitete Handlungsstrang um den jungen Klavierlehrer Anton Steiner (Lukas B. Amberger) und die brutal enttäuschende Auflösung des Mordfalls, die sich nach rund einer Stunde anbahnt: Binnen Minuten wird aus Faszination Frustration, wenn uns langsam dämmert, auf welch tönernen Füßen das simple Handlungskonstrukt errichtet wurde und wie uninspiriert die Sache ausklingt. Oder anders gesagt: Der „Tatort: Die Nacht gehört dir“ ist eine große Luftnummer – nur eben eine, die lange Zeit ansprechend verpackt wird.
Am Ende bleibt manches unbeantwortet und einiges unschlüssig – neben dem Grund für das anfängliche Geständnis zum Beispiel auch die Frage, wie man tolle Schauspieler wie Maryam Zaree (bis 2018 auch als Gerichtsmedizinerin im „Tatort“ aus Berlin zu sehen) oder Max Hopp („Bella Block“) für solch unbedeutende Nebenrollen in einem Film verschenken kann. Da hat man den „Tatort“ aus Franken – und auch Regisseur und Drehbuchautor Max Färberböck – schon stärker gesehen. Auch vom Schauplatz Nürnberg bekommt das Publikum diesmal kaum mehr zu sehen als in der Einleitung auf dem Wochenmarkt: Vom einst so medienwirksam beschworenen, ausgeprägten Lokalkolorit im Krimi aus Franken ist so gut wie nichts mehr übrig geblieben. Da passt es ins Bild, dass mit dem profillosen Kommissar Fleischer nur einer der vier Ermittler ausgeprägten Dialekt spricht und sein Dasein im Kernteam damit überhaupt noch rechtfertigt.
Fazit: Ganz stark angefangen und dann ganz stark nachgelassen – Max Färberböcks „Tatort: Die Nacht gehört dir“ erzählt eine ansprechend verpackte, am Ende aber kolossal enttäuschende Geschichte.