Augen, überall Augen – Paranoia-Kino stark und vielschichtig
Von Janick NoltingIm ersten Akt von Ayşe Polats („En Garde“) starken, doppelbödigen Thriller „Im toten Winkel“ kommt es zu einem Schockmoment: Irgendetwas kracht gegen die Frontscheibe, das Auto hält an. Ein Spinnennetz aus gesplittertem Glas bleibt als Spur des Einschlags zurück. War es ein Unfall? Ein Attentat, eine Warnung oder Drohung? Die Dokumentarfilmerin Simone (Katja Bürkle) steht vor einem Rätsel. Während sie und ihr Team auf der Landstraße mitten im Nirgendwo noch das malträtierte Fahrzeug untersuchen, ahnt man längst, dass hier so einiges nicht mit rechten Dingen zugeht.
Simone will in der Türkei eine Doku zum Thema „immaterielle Denkmäler“ drehen. Dafür trifft sie eine ältere Kurdin namens Hatice (Tudan Ürper), deren Sohn Baran vor 26 Jahren verschwand. Der Geheimdienst soll ihn entführt haben. Seitdem wartet Hatice vergeblich auf ein Lebenszeichen. Während Simone und ihr Filmteam also auf Spurensuche gehen, geraten sie bald in große Gefahr. Selbst die kleine Melek (Çagla Yurga), die plötzlich bei den Dreharbeiten auftaucht, scheint irgendetwas zu verbergen…
Im Auto fängt alles an...
In drei Kapiteln erzählt die deutsch-kurdische Regisseurin Ayşe Polat vom Trauern über offene gesellschaftliche Wunden. Dubiose Machenschaften versuchen derweil, den Status quo zu wahren, und zittern selbst davor, zur Zielscheibe zu werden. Gleich im ersten Kapitel lässt Polat ihre Figuren während der eingangs erwähnten Autofahrt über die Zeitwahrnehmung nach einem Trauma sinnieren. Die Protagonistin Simone spricht dabei vom Gefangensein in der Vergangenheit, einem Verlust des Jetzt. Eine ähnliche Struktur verfolgt der gesamte Film.
Nachdem der erste Akt von „Im toten Winkel“ mit einem rabiaten Twist endet, löst sich die Chronologie auf – und da fängt die Handlung erst so richtig an. Die folgenden zwei Kapitel kehren immer wieder zu vergangenen Ereignissen zurück, beleuchten bereits Gesehenes aus neuen Perspektiven. Einzelne Teile treten aus dem Gesamtbild heraus, um sich an anderer Stelle wieder einzufügen. Nach und nach beginnen die einzelnen Fäden, sich einander zu überkreuzen und Knotenpunkte zu bilden.
Das mag in seinem Puzzlespiel reichlich konstruiert erscheinen und rückblickend etwas überbordend auf dem eigenen Konzept herumreiten. Zugleich stellt „Im toten Winkel“ seinem Publikum damit eine gekonnte Falle. Das wiederholte Neuansetzen und Springen zwischen Blickwinkeln verdichtet sich zu einer raffinierten Suchbewegung, in die sich der thematisierte Verfolgungswahn auf beklemmende Weise einschreibt. Permanent versetzt einen die Regisseurin in höchste Aufmerksamkeit. Immer wieder glaubt man, irgendwo Hinweise entschlüsseln und Verbindungen knüpfen zu müssen.
Beachtlich ist vor allem, wie Ayşe Polat ihre Gesellschaftsdiagnose nicht nur in Form eines wendungsreichen Thrillers, sondern auch einer Spukgeschichte erzählt. Jede Einstellung scheint auf das zu verweisen, das gerade unsichtbar, aber doch in irgendeiner Form anwesend ist und heimsucht. Das erste Kapitel verfährt damit noch spielerisch: Da wird beim Dreh mit der Protagonistin Hatice ein Hinweis gegeben, sie möge sich das Team einfach als Geister vorstellen. Die Kamera wird in ihrem Dasein in der Welt offengelegt und direkt angesprochen. Auch das Publikum wird so zur gespenstisch gedachten Instanz. Ayşe Polat verwischt die Grenzen zwischen Dokumentar- und Spielfilm. Sie dokumentiert das Dokumentieren und alles wird noch komplizierter.
Eine Kamera ist immer da … und wird auch direkt angeschaut.
Spätestens wenn ab dem zweiten Akt Melek und ihr Vater Zafer (Ahmet Varli) in den Fokus rücken, spalten sich die medialen Blicke unentwegt auf. Zafer gehört zu einem Netzwerk, das überall seine Finger im Spiel zu haben scheint. Das deutsche Filmteam, das in der Gegend recherchiert, beäugt man misstrauisch. Zafer selbst verstrickt sich fortwährend in das System, dem er angehört. Die Bedrohung im eigenen Haushalt wächst und seine Tochter spricht plötzlich von einem unsichtbaren Freund.
Solche Motive sind im Genre des Paranoia-Thrillers althergebracht, werden hier aber mit großer formaler Präzision arrangiert. Von der geheimen Kamera in einer Tasche über die Dashcam im Auto, vom Smartphone bis zur installierten Überwachungskamera – überall lauern in diesem Film Linsen, Objektive, künstliche Augen. Sei es, um Momente zu fixieren, andere Menschen auszuspionieren oder brutal zu quälen.
Ayşe Polat lässt ihr Publikum durch versteckte Kameras schauen, von denen die Figuren zum Teil noch nichts ahnen. Wenn Traumata für den Verlust einer Gegenwart sorgen, wie es zu Beginn sinngemäß heißt, dann spielt der Film dabei eine erhebliche Rolle. „Im toten Winkel“ zeugt davon in jeder Minute. Sein Medium teilt jede Sicht und jeden Moment in zahllose Fragmente, Inszenierungen und Gleichzeitigkeiten auf. Menschen sind hier und dort, alle können alle beobachten. Privatsphäre wird zum theatralen Schauplatz: Nur, dass die Spielenden nicht wissen, dass sie spielen, und ihr Publikum ein verborgenes ist. Es lauert irgendwo in der Ferne, observiert und schlägt dann knallhart zu.
Die Diskriminierung kurdischen Menschen, türkische Landesgeschichte sowie die Mechanismen von allgegenwärtigem Misstrauen und Terror bilden nur den Rahmen für eine Selbstreflexion, die sich von konkreten politischen, historischen Verortungen löst. Wie kann ein Spielfilm in einer Zeit der Omnipräsenz digitaler Bilder, Medien und Kameras überhaupt aussehen? Wie kann er seine Perspektive noch wählen, um diesem Chaos gerecht zu werden? „Im toten Winkel“ stellt solche Fragen und findet eine hochspannende Lösung. Der letzte Funke Hoffnung in diesem düsteren Thriller leuchtet dabei ebenso naheliegend wie radikal: im durchdringenden Blick, der aus dem Bild heraus auf sein Publikum zurückfällt.
Fazit: Ayşe Polat gelingt mit „Im toten Winkel“ formal vielschichtiges Paranoia-Kino, das bis zur bitteren Konsequenz das aufklärerische Potenzial, aber auch die Gewalt seines Mediums thematisiert.
Wir haben „Im toten Winkel“ im Rahmen der Berlinale 2023 gesehen.