Betörendes Disco-Kino
Von Jochen Werner„Ich mag es, wenn das Leben wie ein Roman ist“, sagt May (Anais Demoustier) einmal in Patric Chihas schillernder Kinoadaption einer Erzählung von Henry James – und im Grunde bringt sie damit etwas Essenzielles, das diesen Film zusammenhält, ganz gut auf den Punkt. Dabei geht es allerdings keineswegs darum, dass dies ein papierener oder allzu literarischer Film wäre, ganz im Gegenteil: „Das Tier im Dschungel“ ist ein pulsierender, mitreißender Film über die Jagd nach dem „richtigen“ pulsierenden Leben. Es ist auch ein Nachtlebenfilm, denn den größten Teil der Laufzeit verbringen wir mit May und John (Tom Mercier), die sich in einem mysteriösen Club jahrzehntelang umschwirren, magnetisch voneinander angezogen werden und doch nie ganz zusammenfindend.
„Das Tier im Dschungel“ beginnt mit der Eröffnungsnacht des Clubs ohne Namen im Jahr 1979 – und der Begegnung von May und John, die eigentlich eine Wiederbegegnung ist: Bereits zehn Jahre zuvor, als Teenager, war May auf einem Dorffest der entrückt wirkende Junge, der inmitten all des Trubels sehr allein wirkt, aufgefallen. Und auch wenn John sich nicht daran zu erinnern vorgibt, hat dieser bereits in dieser Nacht sein großes Geheimnis mit May geteilt. John wartet. Auf was, das weiß er nicht genau, aber auf etwas Großes, Einzigartiges, das alles verändern wird, ein Ereignis, von dessen Eintreten er hundertprozentig überzeugt ist und das er, so weiß er, dann erkennen wird, wenn es eintritt.
May (Anais Demoustier) und John (Tom Mercier) umschwirren einander auf der Tanzfläche – und kommen doch nie zusammen.
Von diesem großen Versprechen einerseits und Johns absolut unbeirrbarer Überzeugung andererseits in den Bann gezogen, zieht es May immer wieder zu diesem charismatischen, aber auch ein wenig fanatisch wirkenden Außenseiter zurück. Wirklich zueinander finden die beiden aber nie, irgendwann beginnen beide Liebesbeziehungen zu anderen Menschen – und kommen doch nicht voneinander los. Nacht um Nacht, Jahr um Jahr setzt sich das Spiel von Anziehung und Distanz fort.
Die Ereignisse der Welt dort draußen – die Wahl François Mitterands zum französischen Staatspräsidenten, das große Sterben infolge der AIDS-Epidemie, der Jahrtausendwechsel und schließlich der 11. September 2001 – dringen immer mal wieder schlaglichtartig in das Treiben auf der Tanzfläche ein, während Mays Freundeskreis allmählich schwindet. Menschen kommen fast unmerklich abhanden, sterben einsam oder gründen Familien, wenden sich dem Ernst des Lebens zu und wirken wie Gespenster, wenn sie irgendwann einmal einen Abend lang wieder im Club auftauchen.
Mehr als 20 Jahre umfasst die Erzählung von „Das Tier im Dschungel“, ein Zeitraum, der freilich in der Binnenperspektive des eher minimalvariierten Treibens auf dem Dancefloor wie in einem Augenblick zu verfliegen scheint. Nun liegt im tragischen Kern dieses Stoffes eine Lesart sehr nahe, die in Mays und Johns ewigem Warten und ihrem Unwillen, den Weg ihrer Freunde – in Beruf, Familie, (klein-)bürgerliches Dasein – mitzugehen, ein Versäumen des eigentlichen zugunsten des ewigen Abglanzes eines versprochenen, aber nie eintretenden „anderen Lebens“ sieht. Eine Deutung, die sich am Ende auch nicht ausklammern lässt, wenn die bitteren Realitäten von Tod und Einsamkeit keine Zukunft mehr zulassen, sondern nur noch die Suche in der Vergangenheit nach dem Punkt, an dem man sich anders hätte entscheiden können.
Weil „Das Tier im Dschungel“ über mehr als 20 Jahre in dem namenlosen Club nachzeichnet, ist der Film zugleich auch eine Chronik mehrerer Dekaden (elektronischer) Musik.
Zu einem wirklich klugen und betörenden Film wird „Das Tier im Dschungel“ jedoch dadurch, dass er selbst nicht so recht zu wissen vorgibt, wie es sich denn nun eigentlich mit dem richtigen Leben verhält. Die Nachtclubwelt, in der er über weite Strecken spielt, setzt Regisseur Chiha in leuchtenden, glitzernden Farben in Szene – während er für die wenigen, aber umso prägnanteren Szenen, die bei Tageslicht und außerhalb des Clubs spielen, zwei unterschiedliche Lichtstimmungen kreiert.
Da ist nicht nur das kalte, hellweiße und brutale Tageslicht, das immer wieder die weichen, bunten Nachtclublichter geradezu scharfkantig kontrastiert, sondern da gibt es auch, spät im Film, ein viel graueres Alltagslicht, das sich bleiern auf und über alles legt – ein Licht, das Menschen unter seiner Schwere begräbt und allen und allem die Farben auszusaugen droht. Mays Freundin Céline (Mara Taquin), die irgendwann einfach unbemerkt nicht mehr gekommen ist und wieder irgendwann, viel später, May mit vorwurfsvollem, traurigem Blick am Tresen gegenübersitzt, sieht man an, dass sie Jahre in diesem grauen Licht verbracht hat und selbst grau, hart und kalt geworden ist.
May hingegen wählt den anderen Weg, verlässt den Club im Grunde nie und jagt ein Vierteljahrhundert dem Leuchten, dem Zauber, dem Glitzern und dem Versprechen nach. Irgendwann überkommt sie die Ahnung, dass sich hinter diesem großen Versprechen vielleicht etwas Anderes, leichter zu Übersehendes verbergen könnte als das große, alles umwälzende Ereignis – eine Erkenntnis, der sich letztlich auch John nicht entziehen kann, der sie aber erst zulässt, als es unwiderruflich zu spät ist.
Man kann, sofern man sich gegen das Grau entscheidet, am Ende nur verglühen oder irgendwann aufwachen und erkennen, dass man alt geworden ist – diese brutale Wahrheit erspart „Das Tier im Dschungel“ seinen Protagonist*innen ebenso wenig wie uns. Aber dass ein Leben, das aufgegeben hat, dem Glitzer, dem Zauber und dem Leuchten nachzujagen, im Grunde keines mehr ist, das weiß er glücklicherweise auch sehr gut.
Fazit: Ein betörender, sinnlicher Discofilm als mitreißende, aber im Kern tieftraurige Meditation über die Suche nach dem richtigen Leben, an der wir alle auf verschiedene Weise scheitern – und darüber, dass ein Scheitern in Glanz und Glitzer durchaus eine valide Option ist.