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    Architecton
    Kritik der FILMSTARTS-Redaktion
    4,0
    stark
    Architecton

    Geschichte(n) aus Gestein

    Von Janick Nolting

    Wenn die Menschheit eines Tages ausstirbt, was bleibt dann von ihr übrig? Eine Ansammlung von Mauern, Klötzen und Türmen, verfallen, überwuchert. Bilder einer sich regenerierenden, heimgesuchten Natur. Hier und da streift noch ein Tier umher. Vielleicht bleibt aber auch nichts als tote Ödnis, graue Betonwüsten, gigantische Furchen und Gänge, die nur noch abstrakte Formen und Friedhöfe bilden. Wiederholt zieht es Victor Kossakovsky zu solchen gespenstischen Orten, die in „Architecton” an den Grundfesten menschlicher Zivilisation und Geschichtsschreibung rütteln.

    Kossakovsky ist ein Regisseur, der sich erneut eines Stoffes annimmt, welcher zunächst wie ein Fass ohne Boden erscheint. Am Ende entsteht dabei ein weiteres Dokumentarfilm-Highlight. Nach der Auseinandersetzung mit Wasser und den Weltmeeren in „Aquarela” und dem Alltag von Tieren in „Gunda” geht es in „Architecton” nun also um Gestein. Klingt vielleicht nach einem undankbaren, trockenen Thema für einen Kinofilm. In der Tat gelingt es dem russischen Dokumentarfilmer jedoch, einige der spektakulärsten Eindrücke der vergangenen Jahre auf die Leinwand zu bringen.

    Wer glaubt, dass Steine nur rumliegen, der irrt. „Architecton“ findet auch Bilder von sich bewegenden Steinen, die man so schnell nicht mehr vergisst! Ma.ja.de. Filmproduktions GmbH / Point du Jour / Les Films du Balibari
    Wer glaubt, dass Steine nur rumliegen, der irrt. „Architecton“ findet auch Bilder von sich bewegenden Steinen, die man so schnell nicht mehr vergisst!

    „Architecton” zeigt die Geschichte der Menschheit als eine des ständigen Bauens und Zerstörens, als Hin- und Herschieben von Material. Der Prolog des Films setzt ein in der Ukraine, wo sich Schneisen der Verwüstung abzeichnen. In zerbombten Wohnkomplexen klaffen gigantische Lücken, Überreste formen grauenerregende Installationen. Wohnungen sind in der Mitte zerteilt. Während der Mensch damit beschäftigt ist, sich und seine Errungenschaften selbst zu vernichten, geht Victor Kossakovsky in eine Art Nullzustand zurück, in dem der Mensch den Naturgewalten gnadenlos ausgeliefert ist, ehe er sich ihrer bedient. Nur, um in der Rahmung des Films schließlich zu fragen, wie es weitergehen, wie wir uns neu in Natur und Welt positionieren, sie bewohnen und schonend mit ihren Ressourcen verfahren können.

    Spektakuläre Naturbilder

    Wenn es um besagte Naturgewalt geht, müssen Tricks und Kniffe her, um sie im Kinosaal erfahrbar werden zu lassen. Kossakovsky schafft das mit Imposanz und Eindringlichkeit! Gleich in der ersten Viertelstunde fängt er einen Erdrutsch ein, wie man es wahrscheinlich noch nicht gesehen hat. Im Spiel mit Bildfrequenzen, die verblüffende Symbiosen von Beschleunigung und Verlangsamung im Sehen kreieren, zeigt „Architecton” fliegendes, umherspritzendes, entfesseltes Gestein in hochaufgelösten Nahaufnahmen. Gewaltige Brocken donnern zu Boden und rutschen in Richtung Kamera. Man fragt sich, wie solche Aufnahmen technisch überhaupt möglich sind, ohne sich in Lebensgefahr zu begeben. Die Einstellungen und Perspektiven, die Kossakovskys Kameramann Ben Bernhard dabei wählt, lassen die Welt neu sehen. Tonnen an Geröll gleichen plötzlich einem Blick in psychedelische Strudel und Wellenformen. Teilweise glaubt man, in das funkelnde Weltall zu sehen, bis riesige weiße Staubwolken die Bilder wieder verhüllen.

    Wenige zeitgenössische Filmschaffende verstehen es so gut, Natürlichkeit in Szene zu setzen. Das dokumentarische Kino von Victor Kossakovsky ist keines, das an schlichtem Auserzählen und Erklären interessiert ist. Einordnende oder kommentierende Interviews und Voice-Over-Texte gibt es in „Architecton” fast gar nicht zu erleben. Stattdessen erreichen seine Bilder und dröhnenden Klangwelten einen sinfonischen, höchst sinnlichen Charakter. Kossakovskys neuer Film jongliert kunstvoll mit den Dimensionen. Sei es im Einsatz von Detailaufnahmen und weiten Panoramen, im Wechselspiel von Lebendem und Totem oder auch der Inszenierung von Lebewesen. Irgendwann krabbelt eine winzige Ameise auf einem titanisch anmutenden Fundament entlang. Wie schon in „Gunda” rückt Kossakovsky einen verborgenen Alltag, das Übersehene ins Rampenlicht.

    Ruinen und Zeitlichkeit

    Gestein zeigt „Architecton” als Gebirgsformationen, Landschaften, als Baumaterial sowie als Werkzeug, um Kunst zu schaffen. Mehrfach begleitet Kossakovsky das meditative Aufeinanderstapeln und Ausbalancieren von Steinen und plötzlich dehnt sich die Zeit, die Welt steht still. Bilder wechseln ins Schwarz-Weiß, durchstreifen uralte Ruinen. Schnitte springen zwischen Zuständen raumzeitlicher Erfahrung. „Architecton” ist ebenso ein Versuch, das Ablagern der Zeit in der Natur und an Bauwerken filmisch einzufangen. Auch hier schafft es Kossakovsky mit visuellen Verfremdungseffekten und überraschenden Blickwinkeln, das zunächst Unscheinbare in etwas ungeheuer Kunstvolles zu verwandeln. Manchmal kann man es auf den ersten Blick nicht einmal genau identifizieren.

    Leichte Längen entwickelt sein Film höchstens, da die Wahl der Motive über knapp 100 Minuten durchaus etwas Repetitives birgt. Vielleicht hätte es „Architecton” bereichert, hätte er ein finales Gespräch mit dem italienischen Architekten Michele De Lucchi schon vorher begonnen und nicht erst in die letzten Minuten gepresst. Hier wirft Kossakovskys Protagonist explizit die Frage auf, wie Menschen künftig bauen wollen, ob Beton und Zement auf ewig die Natur verschandeln, oder ob wir neue Methoden entwickeln werden, um in besserem Einklang mit der Umwelt zu existieren.

    Was kommt nach dem Beton?

    Gerade die Frage der Langlebigkeit spielt dabei eine Rolle. Wie kann es sein, dass der Mensch früher einmal so massive Gebäude, prächtige Tempelanlagen, die der Film besichtigt, zu bauen wusste, während er heute auf hässliche, triste Häuser setzt, die höchstens wenige Jahrzehnte halten?

    Allerlei Ideologisches und Systemisches ließe sich als Begründung angeben. Der Film selbst entflieht dabei ins Offene. Dass dieser Diskurs erst im Epilog als Angebot ausgesprochen wird, erlaubt jedoch umgekehrt, sich zunächst voll und ganz auf die verführerischen filmischen Mittel und Schauwerte konzentrieren zu können. „Architecton” drückt einen regelrecht in den Kinositz. Seine Eindrücke von Naturkatastrophen, menschlichen Hinterlassenschaften, Eingriffen in die Natur und Arbeitsprozesse in Steinbrüchen und Fabriken besitzen etwas Erschlagendes, zum Teil Furchteinflößendes, Surreales. Und doch ist dieser Film nicht ohne Hoffnung, wenngleich seine Utopie eines neuen Bauens und Lebens in weite Ferne rückt.

    Graben in der Vergangenheit

    Zumindest ist er neugierig und bestrebt, der Mensch. Immer wieder fängt er von vorn an, wenn die Welt mal wieder in sich zusammengefallen, Moden überholt, Lebewesen und Ideen gestorben sind. Und so wird ein Arbeiter namens Abdul der heimliche Star von „Architecton”. Ein zeitgenössischer Sisyphos, der seit langer Zeit eine Grube aufräumt, in der sich alte byzantinische Gräber finden lassen. Menschen stoßen hier zunächst an Grenzen, wenn sie an die gigantischen Gesteinsblöcke als Grenzwall herantreten. In solchen Bildern schließt sich ein Kreis zu Kossakovskys „Gunda”, wo das plötzliche Entdecken eines Zaunes die Welt in einen beengten Rahmen fasste. Hier wird er auch zu einer Möglichkeit des Forschens und Entdeckens. Der Mensch als ewig Suchender, der in der Tiefe gräbt, um frühere Zivilisationsschichten freizulegen, zu wahren und zu studieren.

    Fazit: Mit seltener Bild- und Klanggewalt erweist sich Victor Kossakovsky erneut als Größe des gegenwärtigen Dokumentarfilms. Sein Gesteinsfilm ist nicht nur intellektuell anregend, sondern auch eine ungemein sinnliche, überwältigende Kinoerfahrung.

    Wir haben „Architecton“ im Rahmen der Berlinale 2024 gesehen, wo er als Teil des offiziellen Wettbewerbs gezeigt wurde.

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