Eine etwas andere West Side Story
Von Christoph PetersenDie wohl auffälligste Neuerung der 2021er-Version von „West Side Story“ ist der weniger künstliche Look – das Manhattan der Fünfziger sieht bei Steven Spielberg plötzlich nicht mehr aus wie eine Aneinanderreihung von Theaterbühnen. Die als New-Wave-Musikerin und Techno-Pop-Komponistin bekanntgewordene Amanda Kramer kehrt in ihrem dritten Langfilm „Please Baby Please“ nun nicht nur zur Kulissenhaftigkeit des mit zehn Oscars ausgezeichneten Musical-Klassikers von 1961 zurück, sondern setzt mit ihrem neonbeleuchteten, nebelverhangenen, hyperstilisierten Manhattan der 1950er sogar noch einen drauf.
In ihrem Film, der mit seiner Weltpremiere das Filmfestival Rotterdam eröffnet hat, gibt es zwar auch wieder eine vagabundierende Gang und verbotene Begehren. Aber darüber hinaus erweist sich „Please Baby Please“ als eine Art queere Anti-„West Side Story“ – und das nicht nur, weil die Story auf der genau entgegengesetzten Seite Manhattans angesiedelt ist. Amanda Kramer knallt dem „Romeo & Julia“-Machismo des „Vorbilds“ nicht nur einen ausgemachten Gender-Diskurs vor den Latz, sie verwendet auch die Tonspur - wie schon in einigen ihrer früheren Werke – immer wieder wie eine Waffe. Ohrwürmer sucht man bei „Please Baby Please“ deshalb vergebens.
Arthur (Harry Melling) und Suze (Andrea Riseborough) werden Zeuge eines brutalen Mordes – direkt vor ihrer Haustür!
Arthur (Harry Melling) und Suze (Andrea Riseborough) haben gerade erst geheiratet – und steuern nun auf ein herkömmliches bourgeoises Leben im New York der Fünfzigerjahre zu. Aber dann werden sie vor ihrem Appartementkomplex in der Lower East Side Zeugen eines brutalen Mordes – begangen von den in schwarzes Leder gekleideten Mitgliedern der Gang Young Gents. Weil Suze in dem Moment auch noch die eigene Wohnungsnummer 2B verrät, lebt das junge Paar in der Folge in ständiger Angst ...
... wobei sich in die Furcht auch noch andere Emotionen mischen: Während Arthur offensichtlich Gefühle für den Totschläger Teddy (Karl Glusman) entwickelt, wäre Suze wohl am liebsten selbst ein Young Gent – die Idee von Macht, Machismo und Gewalt turnt sie jedenfalls deutlich mehr an als ihr eigener Ehemann, der sich strikt weigert, die gesellschaftlichen Vorstellungen von Männlichkeit zu erfüllen, nur weil er zufällig mit einem Penis geboren wurde...
In einer typisch-bourgeoisen Plauderrunde, wie sie seit jeher in Manhattan zwischen intellektuellen Kunstinteressierten stattfindet, fordert ein Freund den Nicht-Klischee-Mann-sein-wollenden Arthur heraus: Zumindest bei der Penetration müsse er doch so etwas wie Macht spüren - oder etwa nicht? Aber Arthur erwidert voll naiv-gutmütiger Überzeugung: „Beim Sex fühlt es sich oft so an, als sei Suze in mir.“ Die anderen lachen, aber er meint es ernst. Aus dem unausstehlichen, übergewichtigen Harry-Potter-Cousin ist ein einfühlsamer junger Mann mit beeindruckend-stilsicheren tänzerischen Fähigkeiten geworden (wer hätte denn vor 20 Jahren gedacht, dass ausgerechnet Harry Melling später einmal so viele ergebene weibliche Fans haben würde). In „Please Baby Please“ wirkt es jetzt jedenfalls so, als würde der 32-Jährige die Rolle des Bullys Dudley Dusley endgültig auf der Leinwand aus sich heraus therapieren.
Trotzdem bleibt „Please Baby Please“ vor allem eine Andrea-Riseborough-Show: Ihre Entwicklung von der braven Ehefrau zum Marlon-Brando-Gedächtnis-Tough-Guy ist wahrhaft ein Ereignis – kein Wunder, dass der „Mandy“-Star auch als Produzentin mit eingestiegen ist, so viel Spaß wie sie daran hat, den dauerfluchenden und dauerkonfrontativen Machismo aus ihrer Performance heraustriefen zu lassen. Der – neben dem kurzen, aber prägnanten Auftritt von Demi Moore als Trophy Wife mit Geschirrspüler und Würge-Fetisch) – Höhepunkt dieser Wandlung: Eine verspielt-anrüchige S&M-Performance, bei der Suze von den Young Gents mit einem Bügeleisen malträtiert wird – da treffen gesellschaftliche Erwartungen und persönliche Obsessionen pointiert aufeinander.
Die S&M-Traumsequenz mit Bügeleisen-Fetisch zählt sicherlich zu den Highlights des Films.
Mit all den queeren und stilistischen Eigenheiten sowie Hommagen an David Lynch, Rainer Werner Fassbinder, John Waters und Kenneth Anger sollte der zukünftige Kultstatus von „Please Baby Please“ ja eigentlich gebongt sein. Aber Amanda Kramer stößt selbst einem aufgeschlossenen Publikum gern vor den Kopf. So hat sie über ihr Debüt „Ladyworld“, in dem eine Gruppe von Teenagerinnen nach einem Erdbeben in einem verschütteten Haus eingesperrt und in dem das bewusst-enervierende Sounddesign irgendwann kaum noch auszuhalten ist, einmal gesagt: „Ich hoffe, ihr genießt es. Oder anders. Ich hoffe, es ist qualvoll und ruiniert euren Tag.“
„Please Baby Please“ ist nun zwar sehr viel zugänglicher (wenn auch trotzdem kaum Mainstream-tauglich) – aber in gewisser Weise bleibt Amanda Kramer sich und ihren experimentellen Wurzeln dennoch treu: Nicht nur auf Ohrwürmer muss man verzichten (sowieso gibt es für einen Musical-artigen Film erstaunlich wenig Musik), auch der idiosynkratische Rhythmus des Films macht es nicht gerade leicht, in die Erzählung hineinzurutschen. Da stellen sich diese emotionalen Hochs wie bei anderen Musicals eher nicht ein – zumindest nicht ganz zum Schluss, wenn sich in einer grandiosen Splitscreen-Sequenz, in der Suze endgültig zum Leder-Gangbanger mutiert, während Arthur draußen auf der Straße seinen inneren Fred Astaire entdeckt...
Fazit: Eine queere „West Side Story“ mit mehr als nur einem Schuss Kenneth Anger und Rainer Werner Fassbinder – „Please Baby Please“ ist ein hyperstilisiertes Anti-Musical mit „Eraserhead“-artigen David-Lynch-Frisuren und integriertem Gender-Diskurs, bei dem sich Harry-Potter-Fans, die mit Harry Melling in der Rolle des bösartigen Bully-Cousins Dudley Dursley aufgewachsen sind, ganz schön die Augen reiben werden.
Wir haben „Please Baby Please“ im Rahmen des online abgehaltenen International Film Festival Rotterdam 2022 gesehen, wo er als Eröffnungsfilm gezeigt wurde.