Laufen bedeutet, sich lebendig, frei und selbstbestimmt zu fühlen
Von Ulf Lepelmeier13 Jahre, nachdem Yasemin Şamdereli mit ihrem liebevollen und ideenreichen Kinodebüt „Almanya – Willkommen in Deutschland“ große Erfolge feierte, nimmt sich die Regisseurin in ihrem zweiten Leinwand-Spielfilm der Lebensgeschichte der somalischen Leichtathletin Samia Yusuf Omar an. Der auf wahren Geschehnissen basierende Film, der beim Filmfest München 2024 mit dem International Audience Award ausgezeichnet wurde, erzählt die berührende Geschichte der aus ärmsten Verhältnissen stammenden Samia, die es als Läuferin – trotz aller frauenfeindlichen Repressalien in ihrer Heimat – bis zu den Olympischen Spielen nach Peking schaffte, bevor ihre Flucht nach Europa einen tragischen Verlauf nahm.
Mogadischu im Jahr 2000: Die neunjährige Samia (Riyan Roble) läuft für ihr Leben gern und lässt bei den täglichen Rennen zur Schule ohne Schwierigkeiten alle hinter sich. Deshalb möchte das aufgeweckte Mädchen auch am jährlichen Stadtlauf von Mogadischu teilnehmen. Während ihre Mutter die Begeisterung Samiras nicht gutheißt und die Gefahr sieht, dass eine Patrouille die sportliche Betätigung ihrer Tochter ahnden könnte, wird sie von ihrem Vater Yusuf (Fatah Ghedi) unterstützt, der ihr im Falle eines Sieges sogar echte Turnschuhe verspricht. Als in den nächsten Jahren die Verordnungen gegenüber Frauen immer restriktiver werden, ist noch größere Vorsicht geboten. Doch Samia lässt sich nicht einschüchtern und fängt an, nachts auf einem verlassenen Sportplatz zu trainieren. Unterstützt von ihrem Freund Ali (Zakaria Mohammed), der sich als ihr Trainer versteht, hat sie stets ihren Traum vor Augen, als schnellste Frau Somalias ihr Land bei den Olympischen Spielen zu vertreten…
In dem „Samia“ zugrundeliegenden Roman „Sag nicht, dass du Angst hast“ zeichnet Guiseppe Catozzella, der im Schreibprozess mit Samias Schwester Hodan im engen Austausch stand, nicht nur die Familiengeschichte der somalischen Fahnenträgerin bei den Olympischen Spielen in Peking 2008 nach. Ihm gelingt es vielmehr, die grundlegenden Probleme der Region nachvollziehbar darzustellen und damit aufzuzeigen, was Menschen überhaupt erst zur hochriskanten Flucht ins Ungewisse veranlasst. Yasemin Şamderelis Film behält diese Qualität bei und macht – trotz der klaren Fokussierung auf die optimistische Protagonistin und ihren Traum vom Laufen – die prekäre Lage in Somalia sowie die Bedeutung der Machtergreifung der Islamisten für die Bevölkerung greifbar werden.
Da die Sicherheitslage in Somalia eine Realisierung der Dreharbeiten in den Straßen Mogadischus nicht zuließ, entschied sich das Filmteam dazu, nach Malindi im Nachbarstaat Kenia auszuweichen. Regisseurin Şamdereli konzentriert sich insbesondere darauf, Samias Aufwachsen in ihrem familiären und nachbarschaftlichen Gefüge zu zeigen, welches die somalische Gesellschaft spiegelt. Während in Samias Kindheit Somalia durch permanente Unruhen nicht zur Ruhe kommt und Bombendetonationen und Anschläge Mogadischu immer wieder erschüttern, ergreifen islamistische Gruppierungen in ihrer Jugendzeit die Macht im Land. Sie verbieten Musik und lauten Jubel, das Sporttreiben von Frauen und ordnen deren permanente Verschleierung an.
Immer wieder sind Zeitsprünge eingewoben, welche die Protagonistin auf ihrer riskanten Flucht Richtung Mittelmeer oder auch bei ihrer Teilnahme bei den Olympischen Spielen zeigen. Die drastischen Darstellungen der eingepferchten Flüchtlingsfahrten durch die Wüste und das Gebaren der unmenschlichen Schleuser erinnern dabei an Regisseur Matteo Garrones erst kürzlich oscarnominierten „Ich Capitano“. Schon als Kind und im geschützten Rahmen ihrer Familie wird Samira regelmäßig mit den gesellschaftlichen Erwartungen an ihre Stellung als Frau konfrontiert: So wägen ihre Eltern sowie die anderen im Haus lebenden Familienmitglieder ständig ab, ob das Mädchen überhaupt noch laufen oder sich nicht besser verschleiern sollte. Während der von Fatah Ghedi charismatisch porträtierte Vater Samia dabei mit motivierenden Worten unterstützt und zu ihr hält, sehen ihre Konsequenzen befürchtende Mutter und ihr konservativer Bruder ihre Ambitionen weitaus kritischer.
Die beiden Samia-Darstellerinnen Riyan Roble (als Kind) und Ilham Mohamed Osman (als junge Frau) verstehen es, ihre Lebensfreude und ihren Spaß am Laufen glaubhaft zu transportieren. Das optimistisch-aufgeschlossene und fröhlich-unbekümmerte Wesen Samias kontrastiert die dramatischen und traurigen Ereignissen, welche den Film dominieren, und lassen die deprimierende Lage der Familie erträglicher erscheinen. Wenn Samia lossprintet und ein großes Strahlen aufsetzt, der Beat der Musik im Laufrhythmus an Schnelligkeit gewinnt, wird man von ihrer Faszination für die Bewegung mitgerissen. Man versteht sofort, dass das Laufen nicht einfach für eine sportliche Betätigung steht, sondern dafür, sich lebendig, frei und selbstbestimmt fühlen zu können.
Fazit: „Samia“ ist ein bewegendes Biopic über eine passionierte junge Frau, die hart für ihren Olympiatraum trainiert und dabei auf immer größere Widerstände stößt, die sie letztlich zu einer unwiderruflichen Entscheidung zwingen. Regisseurin Yasemin Şamdereli erzählt mit der Lebensgeschichte der Sportlerin zugleich auch von den Hintergründen, die Menschen dazu bringen, ihre Heimat zu verlassen und stattdessen eine lebensgefährliche Flucht in eine erhoffte bessere Zukunft auf sich zu nehmen.
Wir haben „Samia“ beim Filmfest München 2024 gesehen, wo er in der Sektion „Wettbewerb CineCoPro“ gezeigt wurde.