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    Albatros
    Kritik der FILMSTARTS-Redaktion
    1,5
    enttäuschend
    Albatros

    Ein ärgerliches Drama

    Von Björn Becher

    Mit seinen Regiearbeiten, darunter der 2010 mit dem Großen Preis der Jury in Cannes ausgezeichnete „Von Menschen und Göttern“, hat sich der französische Schauspieler Xavier Beauvois den Ruf eines unaufgeregten Alltagsbeobachters erarbeitet. Auch in seinem neuesten Werk „Albatros“, der in den Wettbewerb der Berlinale eingeladen wurde, kommt Beauvois seiner Hauptfigur und ihrem ganz alltäglichen Leben als Kleinstadtpolizist immer wieder sehr nah – bis das Drama nach einigen vorherigen Fehltritten im finalen Drittel endgültig ins unpassend Melodramatische kippt.

    Laurent (Jéremie Renier) ist Sergeant bei der Polizei in einer kleinen Küstenstadt in der Normandie. Mit seinem Team sorgt er dort für Ordnung – manchmal heißt das einfach nur, einen Betrunkenen aus der Kneipe zu befördern, aber es kann auch mal darum gehen, dem Verdacht nachzugehen, dass ein kleines Mädchen vom Vater vergewaltigt wird. Doch egal, was es ist: Wenn Laurent nach Hause zu seiner Verlobten Marie (Marie-Julie Maille) und der gemeinsamen Tochter Poulette (Madeleine Beauvois) kommt, dann lässt er das Berufliche ganz bewusst draußen. Aber dann trifft Laurent im Dienst eine Entscheidung, die auch privat massive Folgen für ihn hat...

    Eine neue fatale Entscheidung

    Schon 2004 widmete sich Beauvois mit „Eine fatale Entscheidung“ der Arbeit der Polizei. Das starke Drama ist so angenehm unaufgeregt-unspektakulär, dass sich aus dem Gefühl, tatsächlich hautnah dabei zu sein, eine ganz eigene Spannung entwickelt. Mit „Albatros“, für den „Eine fatale Entscheidung“ ebenfalls wieder ein perfekt passender Titel wäre, scheint Beauvois diese Atmosphäre replizieren zu wollen. Doch das gelingt ihm nur selten.

    Zu Beginn hat es noch durchaus seinen Reiz, wie der Regisseur Szenen aus dem Alltag seiner Hauptfigur oft ganz ohne Auflösung aneinanderreiht und regelrecht versanden lässt. Da untersucht Laurent mit seiner Kollegin Carole (Iris Bry) etwa nachts ein verdächtiges, am Straßenrand parkendes Fahrzeug. Der junge, möglicherweise bekiffte Mann am Steuer antwortet aber nur, er habe eine kurze Schlafpause eingelegt. Und so ziehen die Polizisten einfach wieder von dannen. Die ganze Szene dient nur dazu, das Gefühl von Alltag und Routinen zu evozieren.

    Auch Polizisten brauchen Pausen

    Das ist teilweise auch bewusst nervend: Wenn der verzweifelte Milchbauer Julien (Geoffrey Sery) einen Gesundheitsinspektor über den Haufen fährt und mit seinem Gewehr die Flucht ergreift, setzt Laurent panisch nach. Höchste Alarmstufe! Der Flüchtige ist eine Gefahr für alle und sich selbst. Er müsse schnell gefunden werden. Schnitt. Laurent sitzt im Feierabend bei seiner Frau. Weiterer Schnitt. Mit einem Verhör von Juliens Schwester geht der Fall am nächsten Tag weiter. Auch das ist eben Alltag, selbst der engagierteste Polizist braucht eine Pause.

    Wenn die digitale Handkamera von Julien Hirsch („Eine Frau mit berauschenden Talenten“) immer ganz nah bei den Figuren bleibt, hat das ebenfalls etwas Anstrengendes. Aber es ist eben genau der interessante dokumentarische Blick, der vorherige Filme von Beauvois so reizvoll machte. Doch dieses Mal reißt der Filmemacher selbst das Publikum immer wieder aus dieser Pseudo-Authentizität raus.

    Polizist Laurent blickt in eine ungewisse Zukunft.

    So verlässt er etwa plötzlich für einen Augenblick die Perspektive von Laurent, um zu zeigen, wie ein Selbstmörder im wahrsten Sinne des Wortes in die Aufnahme eines Hochzeitsfotos platzt. Die ungemein zynische Szene trägt überhaupt nichts zur Filmhandlung bei. Denn für das Verständnis von Laurents Arbeit reicht die folgende Einstellung, in welcher der Polizist den Leichnam untersuchen und fotografieren muss. Weil das Paar als Touristen aus Asien gelesen werden soll, wirkt es zudem wie ein spöttischer Kommentar gegenüber der in einigen Ländern verbreiteten Praxis, extra nur für besondere Hochzeitsfotografien nach Europa zu reisen.

    Doch der eigentliche Bruch kommt im finalen Drittel: Beauvois pfeift plötzlich auf den bisherigen Naturalismus und lässt seine Geschichte ins Melodramatische gleiten. Eingeleitet wird das überdeutlich von lauten Streichern und choralen Gesängen, nachdem es vorher überhaupt keinen Soundtrack gab.

    Ein starker Jérémie Renier rettet es auch nicht mehr

    Wenn Laurent nach einer fatalen Entscheidung einen Selbstfindungstrip startet, sollen einige kurze, in schneller Abfolge platzierte Szenen von ihm auf seiner Reise ausreichen, während wir parallel und kaum ausführlicher erfahren, wie das Leben seiner Familie ebenfalls auseinanderfällt. Das reicht aber nicht aus – und so bleibt es allein dem stark aufspielenden Jérémie Renier („Brügge sehen... und sterben?“) überlassen, in nur wenigen Momenten das erschütterte Innenleben seiner Figur so gut es geht zu transportieren.

    Fazit: Mit „Albatros“ bleibt Xavier Beauvois nicht nur deutlich unter dem Niveau seiner unaufgeregt geschilderten und fast dokumentarisch inszenierten früheren Filme. Mit überflüssigen Zwischentönen und einem misslungenen finalen Drittel ist das Drama sogar ziemlich ärgerlich geraten.

    Wir haben „Albatros“ im Rahmen der Berlinale 2021 gesehen, wo er in den offiziellen Wettbewerb eingeladen wurde.

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