In der 1. Rolle nach "Joker": Joaquin Phoenix wieder sensationell
Von Madeleine Eger„Beginners“, „Jahrhundertfrauen“ und nun „Come On, Come On “ – es ist kein Zufall, dass die letzten drei Filme von Mike Mills allesamt sehr intime Familien-Porträts geworden sind. Schließlich fischt der oscarnominierte Autor und Regisseur in seinen Erinnerungen nach Stoffen für seine Drehbücher – und wird dann regelmäßig im engsten familiären Umfeld fündig. Die Filme des Kaliforniers wirken deshalb auch nicht nur sehr persönlich, sie fungieren sogar als eine Art semifiktionale Aufarbeitung der eigenen Biografie. In „Beginners“ geht es um seinen Vater (Schauspiel-Oscar für Christopher Plummer), der nach dem Tod seiner Frau noch im hohen Alter sein Coming-Out hat. Bei „Jahrhundertfrauen“ sind es wiederum die Charakterzüge von Mutter und Schwester, die Mills in sein Skript mit einfließen lässt und in „Come On, Come On“ steht nun die im Kino eher selten behandelte Beziehung von Onkel und Neffe im Zentrum.
Dabei sind es oft die präzise beobachteten Gespräche, die den Filmen ihre mitreißende Authentizität verleihen – es gibt wenige Werke, in denen Familienmitglieder so lebensecht miteinander sprechen. Am Ende sind es aber trotzdem vor allem die vielen kleinen, zutiefst empathischen und auflockernd-komödiantischen Momente, die den Filmen von Mike Mills eine enorme Leichtigkeit, Herzlichkeit und Wärme verleihen. Das ist auch bei „Come On, Come On“ nicht anders – wobei erst die grandiose Chemie zwischen Newcomer Woody Norman (Jahrgang 2009) und Joaquin Phoenix (in seiner ersten Kinorolle nach dem Oscarsieg für „Joker“) den Film endgültig absolut unwiderstehlich werden lässt.
Die neugewonnene Verantwortung scheint Johnny (Joaquin Phoenix) nicht nur nicht einzuengen - sondern im Gegenteil sogar ein Stück weit zu befreien.
Der Radiojournalist Johnny (Joaquin Phoenix) bereist für eine Reportage verschiedene US-Städte, um dort Kinder von Immigrant*innen zu ihrem Leben und ihren Gedanken über die Zukunft zu interviewen. Zu seiner Schwester Viv (Gaby Hofman) besteht weitestgehend Funkstille, seit die Geschwister über den richtigen Umgang mit der schwer dementen, inzwischen verstorbenen Mutter in Streit geraten sind. Nun muss sich Viv allerdings unbedingt um ihren psychisch labilen Mann Paul (Scoot McNairy) in Oakland kümmern – und Johnny bietet an, solange auf ihren Sohn Jesse (Woody Norman) aufzupassen. Dabei fühlt er sich gleichermaßen überfordert und inspiriert von der sich stetig verändernden Beziehung zu seinem zunächst noch so fremden Neffen…
„Come On, Come On“ ist zwar der erste Schwarz-Weiß-Film von Mike Mills, aber von Sperrigkeit oder Theatralik findet sich hier dennoch keine Spur – ganz im Gegenteil: Wenn die Bilder sanft aus dem Schwarz aufblenden oder die Kamera das städtische Treiben in Detroit, Los Angeles und New York einfängt, dann reduziert die bestechende Klarheit der Bilder die Hektik der Metropolen. Ohne die übliche Ablenkung wird auf fast magische Weise in all dem Trubel des Alltags sichtbar, worauf es wirklich ankommt. Den gesprochenen Worten und ansonsten kaum noch wahrgenommenen alltäglichen Geräuschen gilt plötzlich unsere vollste Aufmerksamkeit.
Wahrscheinlich auch deshalb fühlt man sich schon nach den ersten Minuten selbst ein bisschen wie Johnny, der mit der neugewonnenen und ungewohnten Verantwortung für einen anderen Menschen plötzlich auch sich selbst und seine Umgebung ganz anders wahrnimmt – selten hat ein Film einen inneren Wandel derart greifbar gemacht wie nun „Come On, Come On“. Sowieso sind es hier die Kinder, neben dem neunjährigen Jesse eben auch noch all die jugendlichen Interviewpartner, die die Erwachsenen fortlaufend mit der Kraft des Augenblicks konfrontieren und sie dazu bringen, den Raum und sich selbst darin bewusster wahrzunehmen.
Dabei brilliert Woody Norman als emotional überforderter Jesse, der nicht sauber nach Drehbuch funktioniert, sondern sich wie ein echter Neunjähriger eben auch erratisch und irrational verhält. Mal wirkt er spielerisch naiv, wenn er seinen Onkel und damit auch das Publikum aus der Reserve lockt – dann wieder wie eine alte Seele, die dort aus den dunklen, neugierigen Augen herausschaut. Der Jungschauspieler bewährt sich scheinbar mühelos in dem komplexen Geflecht aus persönlich-intimen Momenten mit seinem Onkel, die Erinnerungen, Verständnis, aber auch Konflikte ans Tageslicht fördern. Hilflosigkeit, Wut und Kummer liegen da nah bei Erstaunen, Bewunderung und Liebe.
Es gibt in nicht den einen Moment, in dem plötzlich alles okay ist - in dieser Hinsicht ist "Come On, Come On" für einen Hollywoodfilm ungewohnt ehrlich.
Die größte Entwicklung macht aber gar nicht Jesse, sondern Johnny durch. Die kindlichen Zukunftsvisionen in seinen Interviews erhalten plötzlich eine ganz andere Bedeutung für ihn, wenn er sich um Jesse kümmert – zumal sich sein Neffe immer wieder grundlos als Waise ausgibt und so tut, als habe er keine Eltern und sei nur zufällig in das Haus gekommen. Johnny muss sich seinen eigenen Gefühlen und vor allem der Bedeutung von Elternschaft klarwerden, während ihn Jesse im selben Moment immer wieder (und meist ganz unerwartet) an seine Grenzen bringt. Manchmal sind es nur scheinbar beiläufige Sätze, die den Radiojournalisten aufhorchen lassen und die er dann später allein noch einmal reflektiert, um dem Chaos aus Ideen, Informationsfetzen und ständigen Fragen Struktur und Raum zu verleihen.
„Come On, Come On“ bietet ein wahres Wechselbad der Gefühle, das feinfühlig die Vergangenheit, Gegenwart und ein Stück weit die Zukunft der kleinen Familie porträtiert. Vorgelesene Buchpassagen und Dialoge kollidieren immer wieder mit den satten und starken Bildern. So überlagern sich die Stilmittel fortlaufend, laden sich gegenseitig mit Bedeutung auf und verschwimmen schlussendlich ineinander – es gibt schließlich nicht den einen Moment oder Konflikt, nachdem sich alles in Hollywood-Wohlgefallen auflöst, da bleibt sich „Come On, Come On“ bis zum Schluss treu. Die Liebe drückt sich hier nicht in einem platten Happy End aus, sondern in den stetigen Versuchen, alles so richtig wie möglich machen zu wollen, obwohl es ein 100-prozentiges „richtig“ in solch einem Fall ohnehin nicht geben kann.
Zugleich schwankt der Film immer wieder zwischen intimen Augenblicken sich liebender Menschen sowie der Anonymität der pulsierenden städtischen Umgebung. Da prallen parallele Welten mit aller Kraft aufeinander. In diesem Wechselspiel kreiert Kameramann Robbie Ryan („Marriage Story“, „The Favourite“) das Bild einer niemals stillstehenden, sich immer verändernden Welt. Am Ende, wenn man mit „Come On, Come On“ eine ebenso berührende wie inspirierende Reise durch gleich mehrere amerikanischen Metropolen unternommen hat, dann denkt man wahrscheinlich noch mal an Johnnys Monolog vom Anfang zurück und stellt sich die wichtigsten Fragen vielleicht auch einfach noch mal selbst…
Fazit: Eine ungemein empathische, spirituelle, erdende und unglaublich verzaubernde Kinoerfahrung, die nicht nur die Figuren, sondern auch das Publikum mit einer immer inspirierenden Atmosphäre ins Hier und Jetzt befördert! Eine Einladung zum achtsamen Zuhören, zum aufmerksamen Wahrnehmen der Bilder und Geräusche – was sich allein schon wegen des grandiosen Schauspieles von Joaquin Phoenix und Woody Norman unbedingt lohnt.