Science-Fiction-Thriller am Sonntagabend
Von Lars-Christian DanielsIm September 2019 wurde es im „Tatort: Maleficius“ mal vergleichsweise futuristisch: Die Ludwigshafener Kommissarinnen Odenthal und Stern ermittelten in der (normalerweise eher bodenständigen) Krimireihe der ARD gegen einen renommierten Hirnforscher, der mithilfe von Gehirnstimulationen in seinem Labor Demenz bekämpfen oder die Bewegungsfähigkeit gehandicapter Menschen wiederherstellen konnte. Eine zweifellos mutige Geschichte – aber leider auch ein ziemlich missglückter, stellenweise gar unfreiwillig komischer Krimi, in dem die ethische Fragwürdigkeit dieser Experimente natürlich ausführlich debattiert wurde.
Knapp ein halbes Jahr später wagt sich der NDR nun an ein ganz ähnliches Thema wie der SWR, doch fällt das Ergebnis diesmal überzeugender aus: In Jobst Christian Oetzmanns „Tatort: Krieg im Kopf“ geht es unter anderem um die gezielte Projektion von Bildern und Stimmen in den Kopf von Menschen, die diese Manipulation selbst dann nicht verhindern können, wenn sie über die Vorgänge Bescheid wissen. Wenngleich es der Film beim Publikum aufgrund der zukunftsorientierten Geschichte nicht leicht haben wird, kommen Fans vor allem von Siebzigerjahre-Paranoia-Thrillern auf ihre Kosten – wer einen Krimi nach altbekanntem Konzept sehen möchte, wird sich mit diesem „Tatort“ allerdings schwertun.
Die dramatische Szene mit Messer im Hals gibt es diesmal nicht am Ende, sondern gleich zu Beginn.
Der aus Mali zurückgekehrte Bundeswehrsoldat Benno Vegener (Matthias Lier) hält der Göttinger Hauptkommissarin Charlotte Lindholm (Maria Furtwängler) ein Messer an den Hals. Was veranlasst den psychisch labilen Mann zu der Tat? Als die Situation eskaliert, muss Lindholms Kollegin Anaïs Schmitz (Florence Kasumba) ihn erschießen. Als die Ermittlerinnen sein Haus durchsuchen, entdecken sie neben seinem verängstigten Sohn Roman (Anton Hüsgen) auch die Leiche seiner Frau. Hat Vegener sie getötet? Lindholm und Schmitz erfahren, dass weitere Mali-Rückkehrer starben, nachdem bereits ein Einsatz in Afrika in einer Tragödie endete. Soldatin Susanne Bortner (Katharina Schlothauer) hat überlebt, ist nach einem Unfall aber querschnittsgelähmt. Dank ihrer Therapeutin, der undurchsichtigen Professorin Leyh (Victoria Trauttmansdorff), und den bahnbrechenden Forschungen von Dr. Gottlieb (Hendrik Heutmann), der die High-Tech-Sparte eines Rüstungskonzerns leitet, kann sie nun wieder laufen. Gottlieb forscht allerdings noch an anderen Dingen…
Sage und schreibe 19 (!) Mal fällt in diesem „Tatort“ das Wort „Anaïs“ – fast so, als würden die Filmemacher es den Wissenschaftlern in diesem Cyber-Krimi gewissermaßen gleichtun und dem TV-Publikum gezielt in den Kopf einpflanzen wollen, wie die neue Kommissarin an der Seite der altgedienten Ex-LKA-Ermittlerin Charlotte Lindholm eigentlich mit Vornamen heißt. Zum Vergleich: Das Wort „Charlotte“ fällt nur sechs Mal. Während sich die weiblichen Alphatiere bei ihrem zweiten Fall ein wenig besser verstehen als bei ihrem ersten (Lindholm fing sich damals eine Ohrfeige von ihrer Partnerin ein), wird die Saat für weitere Konflikte gleich wieder ausgestreut: Lindholm lässt sich zu einem Kuss mit Schmitz‘ Ehemann Nick (Daniel Donskoy) hinreißen, der bekanntlich als Gerichtsmediziner in Göttingen tätig ist. Sollte Anaïs davon erfahren, dürfte es krachen.
Ansonsten fokussiert sich Drehbuchautor Christian Jeltsch, der zum 15. Mal für die Krimireihe am Ruder sitzt, aber auf den Mordfall und die damit zusammenhängenden Vorkommnisse in Mali. Zwar erleben wir Schmitz & Schmitz gelegentlich beim Turteln nach Feierabend, doch Lindholm erkundigt sich nur fix per Telefon nach ihrer Mutter und ihrem Sohn. Das war im Niedersachsen-„Tatort“ früher ganz anders und ging meist auf Kosten der Spannung – hier wirkt es fast so, als müsse der seit Jahren auserzählte Background noch künstlich am Leben gehalten werden. Stattdessen nutzen die Filmemacher die Zeit zur Ausarbeitung der ambitionierten Geschichte um den vermeintlichen posttraumatischen Stress junger Soldaten und die Machenschaften der High-Tech-Firma OM-II, die mittels elektromagnetischer Beeinflussung und Mikrowellenwaffen in die Gehirne der Menschen eindringt – Verweise auf den „Terminator“ und den Golfkrieg inklusive.
Sieht anfangs noch alles nach einem Themenkrimi zu traumatisierten Soldaten im Stile des Saarbrücker „Tatort: Heimatfront“ von 2011 oder des Kölner „Tatort: Fette Hunde“ von 2013 aus, wandelt sich der Film zum waschechten Sci-Fi-Thriller, der ein wahrlich beängstigendes Szenario entwirft. „5G kann krank machen, sogar Gedanken lesen“, gibt Lindholm irgendwann zu bedenken, nachdem sie die neuen High-Tech-Möglichkeiten am eigenen Leib erfahren hat – und Schmitz weiß gut, wovon ihre Kollegin da spricht. Denn wie so häufig im „Tatort“ spiegeln die Filmemacher den thematischen Schwerpunkt des Krimis auch in persönlichen Erlebnissen der Kommissare: Während Lindholm sich einen futuristischen Kampfhelm aufsetzen und schmerzfrei durch ihre Hand stechen darf, hat Schmitz mit dem Trauma ihres einleitenden Schusses zu kämpfen – ihre Halluzinationen, die im ursprünglichen Sinne gar keine sind, wirken aber eher bemüht, als dass der Fortschritt der modernen Kriegsführung durch das Herunterbrechen auf zivile Opfer greifbarer würde.
Überall Alufolie: Ein Paranoia-"Tatort" wie eine einzige große Verschwörungstheorie.
Weil die Kommissarinnen außerdem von schwarzen Limousinen und „X-Ray-Vans“ überwacht und mit einem tollen Wolf-im-Schafspelz-Trick genarrt werden, hat der 1126. „Tatort“ oft mehr von einem dystopisch angehauchten Paranoia-Thriller als von einem klassischen Krimi – die Auflösung des Mordfalls ist zweitrangig und wird auf der Zielgeraden fast im Vorbeigehen abgefrühstückt. Antriebsmotor des Geschehens sind stattdessen die Fragen, was in Mali geschehen ist und warum die Verantwortlichen alles daran setzen, die technischen Innovationen bei der ansonsten doch so desolat ausgestatteten Bundeswehr geheim zu halten – und das gipfelt in einer erschütternden Auflösung. Eher enttäuschend verlaufen hingegen die Grabenkämpfe mit Kripo-Chef Gerd Liebig (Luc Feit) und Alfred Neumann (Steven Scharf) vom militärischen Abschirmdienst, die einen Skandal natürlich kleinhalten wollten – das hat man im „Tatort“ schon unzählige Male (besser) gesehen.
Fazit: Mutiger, wenn auch nicht rundum überzeugender Science-Fiction-„Tatort“ mit zwei Kommissarinnen, die die Schattenseiten des technischen Fortschritts am eigenen Leib zu spüren bekommen.