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    Missing
    Kritik der FILMSTARTS-Redaktion
    3,0
    solide
    Missing

    Ein Desktop-Thriller mit Twists ohne Ende!

    Von Sidney Schering

    Das ganze Leben ist ein Screen! Was wie eine medienkritische Polemik klingt, gehört in einer speziellen Filmgattung zum Gesamtkonzept: Sogenannte „Screenlife“-Filme erzählen ihre Geschichte mittels des Geschehens auf Bildschirmen. Die Popularität, die Found-Footage-Filme zwischenzeitlich genossen, haben diese Erzählungen zwar noch nicht erreicht. Aber sie haben nun immerhin ihr erstes Erfolgsfranchise: 2018 erzählte Regisseur Aneesh Chaganty im Thriller „Searching“ von einem Vater, der seine verschwundene Tochter sucht, indem er ihre Internetkonten nach Spuren durchsucht und im Netz um Unterstützung ringt.

    Fünf Jahre später folgt mit „Missing“ nun eine „Fortsetzung im Geiste“: Neue Figuren, neuer Konflikt, neues Mysterium – und dank des unaufhaltsamen Wandels der Technologie, der Netzkultur und der Mediengewohnheiten gibt es abgewandelte sowie völlig neue virtuelle Schauplätze. Fans des Vorläufers werden aber auch eine Handvoll an Rückverweisen identifizieren, die mehr sind als reiner Fanservice. Denn „Missing“ von Will MerrickNick Johnson ist nicht einfach nur ein sich auf Screens abspielender Vermissten-Thriller und virtuelles Mutter-Tochter-Drama. Sondern auch eine neckische Abrechnung mit dem seit Jahren immer intensiver werdenden True-Crime-Hype...

    Nachdem ihre Mutter im Ausland spurlos verschwunden ist, bleibt June (Storm Reid) nur noch das Internet, um etwas zu unternehmen – denn selbst nach Kolumbien zu fahren ist ausgeschlossen.

    Als ihre Mutter Grace (Nia Long) mit ihrem neuen Freund Kevin (Ken Leung) Urlaub in Kolumbien macht, feiert June (Storm Reid) feuchtfröhlich sturmfrei. Doch nicht nur der Kater am Morgen danach sorgt für ein böses Erwachen: Am erwarteten Tag der Heimkehr tauchen Grace und Kevin nicht auf. Graces beste Freundin Heather (Amy Landecker) ist genauso ratlos wie June – und die Behörden agieren in Junes Augen viel zu langsam.

    Also folgt die junge kalifornische Teenagerin dem Vorbild ihrer geliebten True-Crime-Formate und forscht auf eigene Faust nach. Zu diesem Zweck heuert sie via Dienstleistungsportal den freundlichen Kolumbianer Javier (Joaquim de Almeida) an, den sie mittels Videotelefonie von einer heißen Spur zur nächsten leitet. Ein realer und digitaler Spießrutenlauf beginnt, der schnell ebenso berührende wie erschreckende Erkenntnisse zu Tage fördert...

    Alte Bekannte und Altbekanntes

    Bevor sie bei „Missing“ Regie und Drehbuch verantworteten, agierten Will Merrick und Nick Johnson als Filmeditoren von „Searching“ und „Run“, einem weiteren Thriller „Searching“-Regisseur Aneesh Chaganty. „Missing“ ist also quasi eine Art Staffelübergabe, wobei Chaganty und „Searching“-Co-Autor Sev Ohanian zumindest als Produzenten an Bord geblieben sind und zudem auch an der Story mitwirkten. Diese Familiarität hinter den Kulissen überträgt sich auch auf den Inhalt von „Missing“. Das bedeutet: Wer „Searching“ einzig und allein als Kuriosität interessant fand, bekommt bei „Missing“ bloß mehr vom selben Stoff (aber mit sinkendem Innovationsfaktor) geboten. Wer aber „Searching“ mochte, weil der Thriller dank des Screenlife-Gimmicks einen intimen Einblick ins Wesen seiner Figuren gestattete, dürfte von „Missing“ ebenfalls nicht enttäuscht werden.

    Wie schon im Vorgänger wird auch hier wieder auf beängstigende Weise aufgezeigt, dass es sowas wie Privatsphäre im Internet kaum gibt: Merrick und Johnson nutzen die Internetchroniken und das Mediennutzungsverhalten ihrer Figuren, um ihr Innerstes offenzulegen, was aber nicht nur zu Spannung, sondern auch immer wieder zu rührenden Passagen führt. So etwa wenn die pubertär-bockige June bei der Spurensuche zwangsweise über private Videos ihrer Mutter stolpert, in denen sie sich verletzlicher und fürsorglicher zeigt, als June sie je eingeschätzt hätte. Selbst kleine Veränderungen etwa in der Art, wie June Textnachrichten verfasst, entwickeln in „Missing“ plötzlich eine große Tragweite hinsichtlich ihrer Charakterentwicklung.

    Es ist das letzte Mal, dass June ihre Mutter Grace (Nia Long) und ihren neuen Freund Kevin (Ken Leung) vor ihrem Verschwinden sieht.

    Die zentrale Vermisstensuche wiederum durchläuft ihre Höhen und Tiefen: In der ersten Hälfte ackert sich June durch ein ebenso plausibles wie packendes Dickicht aus falschen Fährten und relevanten Hinweisen. Das geschieht mit einem deutlich höheren Tempo als noch in „Searching“, da June als Digital Native die diversen Kniffe digitaler Spurensuche sehr viel intuitiver begreift als der Vater aus dem Vorgängerfilm. Auch die Sequenzen, während denen sich June in Sackgassen verrennt, sind kongruent zu ihrer Charakterzeichnung: Als impulsive Jugendliche sieht sie zuweilen den Wald vor lauter Bäumen nicht.

    In der zweiten Hälfte wird aus dem glaubwürdigen, emotional involvierenden Thriller allerdings ein haarsträubender, einen Twist nach dem nächsten abfeuernder Film nach alter Videothekenthriller-Schule. Wären da nicht das aufwühlende, nuancierte Spiel von Storm Reid als mitgenommene, sich an jedem Strohhalm klammernde Teenagerin, sowie der schroff-mitfühlende Charme von Joaquim de Almeida, hätte „Missing“ narrativ auch glatt entgleisen können.

    Zugleich ein Seitenhieb auf den True-Crime-Hype

    Auch behutsam eingestreute, scherzhafte Beobachtungen über unseren digitalen Medienalltag kommen dem Film zugute: Während die Thriller-Handlung immer unwahrscheinlicher wird, erden Junes Frust über irritierende Captcha-Aufgaben und ähnliche trocken-komische Elemente die virtuelle Spurensuche. An Biss gewinnt „Missing“ zudem durch das Aufgreifen des True-Crime-Booms – nicht nur in Form von pointierten Rückgriffen auf „Searching“ und „Run“.

    Denn True-Crime-Fan June geht an ihren eigenen Fall mit einer sorglosen Neugier heran, wie sie zuweilen auch in True-Crime-Formaten propagiert wird: Alle halten sich für geborene Spürnasen – und stehen somit denen im Weg, die dieses Handwerk tatsächlich verstehen und mit einem behutsamen Vorgehen die Eskalation der Lage vermeiden wollen. Insofern hat vielleicht sogar das haarsträubende Ausufern des Thriller-Plots gen Ende Hand und Fuß – denn auch das ist man ja aus vielen True-Crime-Formaten genauso gewöhnt…

    Fazit: Zeig mir deine Google-Konten und ich sag dir, wo du bist: „Missing“ ist eine gut beobachtete Momentaufnahme unserer Internetkultur und in seinen besten Momenten ein berührendes Mutter-Tochter-Thriller-Drama. Ein Übermaß an immer wilderen Twists führt aber dazu, dass „Missing“ trotz bissigen Seitenhieben auf den True-Crime-Hype gen Ende immer verkrampfter die Nerven kitzelt.

     

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