Jetzt noch mal richtig rum!?
Von Björn BecherAls Gaspar Noés „Irreversibel“ 2002 auf den Filmfestspielen von Cannes seine Weltpremiere feierte, sorgte er für viele Schlagzeilen und bekam so auf Anhieb den Stempel „Skandalfilm“ verpasst. In Anbetracht der Gewaltexzesse und vor allem der einen brutalen und brutal ausführlichen Vergewaltigungsszene schockierte die Vorführung viele Zuschauer. Andere hingegen feierten Noé für sein radikales Konzept, die Geschichte vom Ende her zu erzählen und so Ursache und Wirkung des Racheplots auf den Kopf zu stellen. Jede Szene spielt chronologisch eigentlich vor der vorangegangenen, sodass man zuerst den Abspann und nach rund 97 Minuten den Anfang der Geschichte sieht. Während der Plot glücklich beginnt und grausam endet, beginnt der Film grausam und endet glücklich – ein je nach Sicht perfides oder geniales Spiel.
17 Jahre später hat Noé seinen Film nun noch einmal umgeschnitten – und die Szenen für „Irreversibel Straight Cut“ wieder in die „richtige“ Reihenfolge gebracht. Zudem hat er ein paar Passagen und Dialoge, die ihm in dieser Anordnung plötzlich als überflüssig erschienen, um einige Minuten gekürzt. Ursprünglich war die Fassung auch nur als netter Bonus für eine neue Blu-ray-Veröffentlichung des Originalfilms gedacht. Aber dann hat Noé laut eigener Aussage plötzlich festgestellt, dass „der neue Cut ein ganz anderer Film“ sei – und deshalb entschieden, ihn ebenfalls auf die große Leinwand zu bringen.
Nun steht das Glück von Marcus und Alex am Anfang.
Und tatsächlich entfaltet „Irreversibel Straight Cut“ eine andere Wirkung als die ursprüngliche Fassung. Deshalb ist er vor allem als Komplementärfilm zu „Irreversibel“ ein hochinteressantes Experiment. Der bessere Film bleibt aber trotzdem die Originalversion, weswegen wir auch ganz klar sagen: Wenn ihr „Irreversibel“ noch nicht kennt, gibt es eigentlich keinen Grund, sich mit dem „Straight Cut“ weiter zu beschäftigen. Also schaut euch Noés radikalen Schlag in die Magengruben seiner Zuschauer unbedingt an, bevor ihr euch diese Kritik weiter durchlest und erfahrt, warum einzelne Momente in der neuen Version zwar längst nicht so gut funktionieren, andere Passagen aber durchaus ihren Reiz haben und sich am Ende sogar eine ganz neue Hauptfigur herauskristallisiert.
Marcus (Vincent Cassel) und Alex (Monica Bellucci) können sich nur schwer voneinander losreißen. Das Bett verlassen sie nur, weil sie zu einer Party eingeladen sind. Im Schlepptau haben sie auch noch Pierre (Albert Dupontel), den Ex-Freund von Alex, der ziemlich eifersüchtig auf ihre neue Liebe ist. Auf der Party wird wild gefeiert, vor allem Marcus geizt nicht beim Konsum von Drogen und Alkohol. Das führt zum Streit mit Alex, die ihm doch eigentlich die freudige Nachricht übermitteln will, dass sie schwanger ist. Stattdessen verlässt sie die Party vorzeitig alleine und wird in der Unterführung direkt vor der Tür brutal vergewaltigt und anschließend ins Koma geprügelt. Marcus und Alex, die nur rund 15 Minuten später die Party verlassen, sehen bereits den Notarztwagen und den schockierenden Anblick der blutüberströmten Alex. Als sich ihnen die Chance auf Rache bietet, ist vor allem der aufgeputschte Marcus nicht mehr zu bändigen…
In der FILMSTARTS-Kritik zu „Irreversibel“ verweisen wir darauf, dass das Wie eine größere Bedeutung habe als das Was. Der Film lebe nicht von seiner Erzählung, nicht von der Geschichte der Protagonisten, sondern vor allem von seiner Erzählweise. Der „Straight Cut“ verdeutlich nun, wie sehr Noés ursprüngliche Inszenierung auf sein dramaturgisches Konzept hin ausgerichtet ist – und wie einzelne Dinge davon in der umgekehrten Erzählung einfach nicht mehr funktionieren. So verheimlicht Noé in „Irreversibel“ trotz der Zeitsprünge und falsch herum angeordneten Szenen seine Schnitte. Die einzelnen Kapitel sind ohnehin stets mehrere Minuten lange Plansequenzen und beim „Rückwärtsprung“ zur nächsten Szene weilt die Kamera dann zum Beispiel gerade auf einer grauen Wand, von der sie dann wieder in das nächste Setting hinein Fahrt aufnimmt. Diese Illusion fehlender Schnitte wirkt im „Straight Cut“ hingegen eher befremdlich, zumal Noé auch noch mit zusätzlichen Schattierungen versucht, die nun eben nicht mehr aufeinander abgestimmten Übergänge zu verstecken.
Einzelne Momente verlieren durch die Umkehrung auch direkt ihre ganze Wirkung. Wenn Pierre in der Originalversion am Ende ganz beiläufig auf den Anrufbeantworter spricht, dass sein Auto kaputt sei und sie deswegen nicht damit zur Party fahren könnten, hat das einen Effekt, weil es eines von vielen Details ist, das die Vergewaltigung und den darauffolgenden Exzess hätten verhindern können. Wer nur den „Straight Cut“ schaut, wird diesen beiläufigen Gesprächsfetzen aus dem Hintergrund direkt wieder vergessen (er funktioniert nicht einmal als düsterer Vorbote).
Allerdings gewinnen einige wenige Momente durch die neue Reihenfolge auch: Dass Pierre im Schwulen-Club Rectum nicht dem wahren Täter das Gesicht zertrümmert, kann man auch beim erstmaligen Schauen der Originalfassung problemlos mitbekommen. Aber es ist natürlich noch mal etwas anderes, wenn man im „Straight Cut“ das Gesicht des Vergewaltigers, das sich zu diesem Zeitpunkt längst fest ins Gedächtnis des Zuschauers eingebrannt sieht, direkt neben dem Opfer der Feuerlöscher-Attacke im schummrigen Licht erblickt. Das aus dieser Entdeckung resultierende Beklemmungsgefühl stellt sich beim originalen „Irreversibel“ natürlich frühestens bei der Zweitsichtung ein.
Letzte Liebe vor dem Höllenritt.
Die von Monica Bellucci herausragend gespielte, fast zehn schnittlose Minuten lang andauernden Vergewaltigungsszene bleibt natürlich auch im „Straight Cut“ der eingängigste Moment, an dem sich die Geister auch weiterhin spalten werden. Zugleich verschiebt sich insgesamt die Perspektive aber ein Stück weit weg von ihrer Figur. Gehört der Film ab diesem einschneidenden Moment im Original Alex, verschwindet sie an dieser Stelle nun aus der Geschichte – und in den Fokus rückt stattdessen überraschenderweise nicht (der nach wie vor unglaublich unsympathische) Marcus, sondern der so spießig wirkende Pierre. In der Originalfassung kommt das Drama um ihn kaum zur Geltung. Am Anfang ist er eine dem Zuschauer noch völlig unbekannte Person, von der man nur erfährt, dass sie wahrscheinlich für zehn Jahre in den Knast muss. Und am Ende liegt unser Fokus zu stark auf Alex, um noch die ganze Tragik um das schon länger absenten „Anhängsel“ Pierre zu realisieren.
In der neuen Version steuert nun allerdings der eigentlich die ganze Zeit nur mitgeschleifte Ex-Freund auf einen Schlusspunkt zu, der auch im „Straight Cut“ einem harten Schlag in die Magengrube des Zuschauers gleichkommt – nur eben aus einem anderen Grund. Ging es in „Irreversibel“ noch vor allem um die Plötzlichkeit des Gewaltexzesses, bahnt er sich nun über einen langen Zeitraum an, bis Pierre schließlich einem anderen Menschen den Schädel mit einem Feuerlöscher zu Brei schlägt. Zuvor wird erst einmal ausführlich gezeigt, wie sehr er Alex liebt, wie wenig er für Marcus übrig hat. Wenn dieser ihn dann zwingt, aus einem gestohlenen Taxi auszusteigen und mit ihm ins Rectum zu kommen, erschafft die kreisende Kamera eine unglaublich gespenstisch wirkende Vorahnung eines Abstieges in die Hölle, der es dann für Pierre auch wird. Ihm gehören folgerichtig auch die letzten Szenen des neuen Cuts, sein Schicksal ist das finale Ausrufezeichen vor dem Abspann (der diesmal dann tatsächlich erst am Ende kommt).
Fazit: Der sogenannte „Straight Cut“ von „Irreversibel“ entfaltet keine so starke Wirkung wie das Original, weil viele Szenen einfach auch ganz offensichtlich auf die ursprüngliche „falsche“ Reihenfolge hin ausgerichtet sind. Trotzdem ist es eine überraschende und interessante Erfahrung, die wir zumindest Freunden des Originals durchaus empfehlen können.
Wir haben „Irreversibel Straight Cut“ bei den Filmfestspielen in Venedig gesehen, wo er außer Konkurrenz im Wettbewerb gezeigt wurde.