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    Minari - Wo wir Wurzeln schlagen
    Kritik der FILMSTARTS-Redaktion
    4,5
    hervorragend
    Minari - Wo wir Wurzeln schlagen

    Ein für sechs Oscars nominiertes Kinowunder

    Von Christoph Petersen

    Basierend auf seinen persönlichen Kindheitserinnerungen, erzählt Lee Isaac Chung in „Minari – Wo wir Wurzeln schlagen“ die Geschichte der koreanischen Familie Yi, die sich im ländlichen Arkansas der 1980er Jahre ein neues Leben aufzubauen versucht. Dank seines Films durchlebt der Autor und Regisseur, der das Filmemachen nach einigen mäßig erfolgreichen Projekten schon wieder an den Nagel hängen wollte, um vor dem Antritt einer Lehrtätigkeit an der Universität doch noch ein letztes Drehbuch zu schreiben, nun selbst den Inbegriff des amerikanischen Traums, nach dem auch seine Protagonisten so sehr streben.

    Schließlich wurde „Minari“ nicht nur bei seiner Weltpremiere im Wettbewerb des Sundance Filmfestival mit gleich zwei Hauptpreisen – von der Jury und vom Publikum – bedacht. Inzwischen stehen neben etlichen weiteren Auszeichnungen auch noch stolze sechs Oscar-Nominierungen zu Buche: Lee Isaac Chung ist als Autor und Regisseur gleich doppelt persönlich nominiert, während „Minari“ neben Bong Joon-hos letztjährigem Oscar-Abräumer „Parasite“ überhaupt erst die zweite Produktion in koreanischer Sprache ist, die es bis zu einer Nominierung in der Königskategorie „Bester Film“ geschafft hat. Bei so viel Liebe von allen Seiten kann man ja fast nur enttäuscht werden. Aber zum Glück hält „Minari“, was der sich immer weiter auftürmende Awards-Hype verspricht!

    Die Familie Yi will sich im ländlichen Arkansas eine neue Existenz aufbauen.

    Monica (Yeri Han) und Jacob (Steven Yeun) sind nach ihrer Heirat aus Korea nach Kalifornien ausgewandert. Ihr Geld verdienen sie mit der Bestimmung des Geschlechts frisch geschlüpfter Küken – nur beim weiblichen Nachwuchs lohnt sich die Aufzucht, weil die männlichen Tiere weder Eier legen noch Fett genug werden. Allerdings kann Monica beim in der kalifornischen Geflügelindustrie geforderten Tempo nicht mithalten – und so ziehen die Eheleute 1983 gemeinsam mit ihren Kindern David (Alan S. Kim) und Anne (Noel Cho) nach Arkansas.

    Für Monica ist der Schrecken zunächst groß, als sich das versprochene Haus als nicht gerade taufrischer Wohnwagen entpuppt. Während Jacob versucht, mit dem Anbau von koreanischem Gemüse ein zweites Standbein für die Familie aufzubauen, wächst bei seiner Ehefrau die Frustration - bis sich Jacob schließlich bereit erklärt, seine Schwiegermutter Soonja (Yuh-jung Youn) aus der Heimat einfliegen zu lassen. Nur glaubt der kleine David einfach nicht, dass diese Frau, die sich dauernd so merkwürdig benimmt, tatsächlich seine Großmutter sein könnte…

    Die kleinen Dinge

    Nach dem Moment, in der wir erfahren, dass die aussortierten männlichen Küken in einem Industrieofen verfeuert werden, schneidet Lee Isaac Chung direkt zu einer Szene, die sich um das angeborene, potenziell lebensgefährliche Loch im Herzen von David dreht. Solche Übergänge gibt es in „Minari“ viele – und mitunter wirkt es fast schon zu perfekt, wie sich die verschiedenen Ereignisse hier gegenseitig kommentieren und ergänzen. Trotzdem läuft „Minari“ nie Gefahr, deshalb in irgendeiner Form „konstruiert“ zu wirken …

    … denn dafür ist der Film viel zu vollgestopft mit präzisen Beobachtungen, die in dieser Wahrhaftigkeit wohl niemand aufschreiben kann, der sie nicht selbst miterlebt hat. Von „Stranger Things“-Kameramann Lachlan Milne in magisch-sonnige, aber dabei dennoch nie kitschige Bilder getaucht, erweist sich dabei vor allem das Verhältnis von David zu seiner Oma als oft urkomisches Herz des Films: Während Soonja ihrem Enkel bitteren koreanischen Tee aufdrängt, was er ihr mit einem gemeinen Pipi-Streich heimzahlt, setzt David ganz auf die Kraft von dem heilenden amerikanischen Bergwasser namens Mountain Dew (wer das giftgrün verpackte Gesöff nicht kennt: das ist die süßestes Limo, die man sich nur vorstellen kann).

    Zwei grandiose Leistungen: Yeri Han und Steven Jeun als Monica und Jacob Yi.

    Ganz subtil und ohne dass eine große Sache daraus gemacht wird, fließen die Kulturen hier ineinander – da zieht sich Soonja mitboxend eine uramerikanische Wrestling-Show im Fernsehen rein, baut im nächsten Moment aber eben auch das titelgebende Minari-Kraut am nahegelegenen Bach an. Noch beeindruckender ist allerdings die Chemie zwischen den – auch für sich schon saustarken – Darstellern. „Minari“ ist trotz der tollen Bilder und des präzisen Skripts in erster Linie ganz großes Schauspielkino.

    Der bei den Dreharbeiten erst sieben Jahre alte Alan S. Kim und der koreanische Superstar Yuh-jung Youn („Das Hausmädchen“) reißen dabei eben längst nicht nur den üblichen Klischee-Stiefel zwischen frechem Enkel und verschrobener Großmutter runter, wie man ihn aus etlichen Komödien kennt. Stattdessen entwickelt sich zwischen ihnen ein ganz besonderes, wahrhaftiges Band – weshalb Yuh-jung Youn aktuell auch als kaum noch einzuholende Favoritin auf den Oscar als Beste Nebendarstellerin gilt.

    Nicht die üblichen Szenen einer Ehe

    Etwas Ähnliches gilt für das Zusammenspiel von Yeri Han („Rettet den Zoo“) und „The Walking Dead“-Star Steven Yeun („Burning“), der für seine Leistung in „Minari“ als erster asiatisch-stämmiger Mann überhaupt als Bester Hauptdarsteller für einen Oscar nominiert wurde. Ihre komplexe Beziehung erreicht eine unheimliche Tiefe und Tragik, ohne dass Lee Isaac Chung dafür die Standartszenen, die typischerweise zum Einsatz kommen, wenn die Spannungen in einer Beziehung herausgestellt werden sollen, abarbeiten würde (es gibt etwa kaum „klassische“ Streitereien).

    Auch hier zeigt sich wieder: Der amerikanische Traum mag ein Klischee sein – aber „Minari“ umschifft alle Allgemeinplätze mit seinen ganz und gar spezifischen Beobachtungen gekonnt. Am Schluss lässt sich nicht mal eindeutig beurteilen, ob die Yis den amerikanischen Traum nun verwirklicht haben oder nicht. Aber das ist eigentlich auch egal. Es ist ohnehin viel wertvoller, dass wir diese Familie für knapp zwei Stunden auf der Kinoleinwand kennenlernen durften.

    Fazit: Berührend, wahrhaftig, wunderschön – ein nur vermeintlich „kleiner“ Film über Kindheit, Familie und den koreanisch-amerikanischen Traum, der nicht nur aufgrund seiner vielen Oscar-Nominierungen ganz groß rauskommen wird.

     

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