Drastisch, aktuell, stark!
Von Björn BecherDie Weltpremiere von „Das Ereignis“, Audrey Diwans Verfilmung des gleichnamigen autobiografischen Bestsellers von Annie Ernaux, hätte wohl zu keinem passenderen Zeitpunkt kommen können. Nur wenige Tage vor der ersten Aufführung des Dramas bei den Filmfestspielen in Venedig trat am 1. September 2021 in Texas das nun strengste Abtreibungsgesetz der USA in Kraft. Damit entfachte weltweit eine neue Abtreibungsdebatte, die sich aktuell eher rückwärts zu entwickeln scheint. „Das Ereignis“ zeigt, was passiert, wenn legale Möglichkeiten zum Schwangerschaftsabbruch fehlen – und das ist heute offensichtlich noch genauso relevant wie 2000, als der Roman einen Skandal ausgelöst hat, oder 1963, als Annie Ernaux als Studentin ihr Baby abgetrieben hat.
Texas ist ja auch nur ein ganz aktuelles Beispiel von vielen. Auch in anderen Ecken der Welt werden Frauen und ihnen helfende Menschen, vor allem Ärzt*innen, noch immer kriminalisiert. Und so wirkt „Das Ereignis“ brandaktuell, obwohl eine Geschichte erzählt wird, die fast 60 Jahre in der Vergangenheit liegt. Das Drama funktioniert dabei auch ganz wunderbar als Ergänzung zu „Niemals selten manchmal immer“: Denn wo Eliza Hittman vor allem aktuelle Hürden auf dem Weg zum erlaubten Abbruch thematisiert, geht es bei Diwan vor allem um den Akt einer amateurhaft durchgeführten Abtreibung selbst – und das ist auch im Film genauso schmerzhaft, wie es sich jetzt vielleicht anhört.
Noch genießt Anne das Leben.
Frankreich im Jahr 1963: Anne (Anamaria Vartolomei) hat als erstes Mitglied ihrer Familie die Chance, das harte Arbeitsleben auf dem Land hinter sich zu lassen. Sie lebt bereits in einem Wohnheim für Studentinnen und bereitet sich dort auf die finalen Prüfungen vor, um anschließend Literatur studieren zu können. Sie will Professorin werden. Abends wird auch viel mit den Jungs vom benachbarten Studentenheim gefeiert, getrunken und getanzt. Doch weiter soll es nicht gehen, schließlich wissen doch alle Mädchen: Wenn sie schwanger werden, ist der Traum von einem anderen Beruf als Mutter und Hausfrau vorbei.
Aber Anne ist trotzdem einmal weiter gegangen und ihre Periode nun schon drei Wochen überfällig. Vom Hausarzt gibt es die Gewissheit: Sie ist schwanger. Ihre Zukunft scheint zerstört. Für Anne ist klar: Sie muss das Kind loswerden. Doch ihr Doktor macht ihr klar, dass daran gar nicht zu denken sei: Wer sich nur daran beteiligt, ihr irgendwie hilft, sie nur mit einem falschen Satz berät, muss wie sie selbst eine schwere Gefängnisstrafe fürchten. Doch Anne weiß, dass sie kein Kind bekommen kann. Sie muss einen Weg finden – und der wird mit jeder weiter verstreichenden Woche potenziell drastischer...
„Das Ereignis“ ist ein schmerzhafter Film, der an die Nieren geht. Wenn Anne immer verzweifelter versucht, ihre Schwangerschaft abzubrechen, schließlich sich selbst Nadeln einführt und dann noch weiter geht, wird das Publikum an Grenzen gebracht. Bei meiner Pressevorführung im Rahmen der Filmfestspiele von Venedig verließen bei den Abtreibungsszenen mehrere Menschen den Saal - bei der Vorführung unseres Chefredakteurs fiel sogar eine Frau in Ohnmacht und musste hinausgetragen werden. Audrey Diwan bleibt mit der Kamera erbarmungslos dran, filmt gerade diese Szenen nahezu ohne erlösende Schnitte.
Voyeuristisch ist ihr Film trotzdem nicht, was auch an der Perspektive liegt. Die Kamera ist meist knapp hinter Protagonistin Anne. Wir blicken ihr quasi über die Schulter, erleben ihr Leben mit ihr. Die Kamera folgt ihr beim Lernen, auf Partys, unter die Dusche und eben auch, wenn sie zum letzten Strohhalm greift, um doch noch die Schwangerschaft zu beenden. Wenn sie nach unten schaut, dann schauen wir auch nach unten. Sonst nicht. Dass „Das Ereignis“ nicht im breiten Kinoformat, sondern im alten 1.37:1-TV-Format daherkommt, verengt den Blick zusätzlich und schafft weitere Intimität und Intensität. Völlig konsequent ist so auch die brillante Hauptdarstellerin Anamaria Vartolomei in jeder einzelnen Szene des Films zu sehen.
Auch ihre Freundinnen können Anne nicht helfen.
Zusätzliche Nähe schafft die Tonspur. Immer wieder ist Annes Atmen deutlich vernehmbar, was gerade das Finale noch intensiver macht. Annes Verhalten wird so auch nie von außen beurteilt, sondern einfach nur gezeigt. Wir erleben mit ihr, wie sie mit der Entscheidung ringt, ob und wem sie sich anvertrauen kann. Wie werden die beiden besten Freundinnen reagieren, die zwar viel über Sex lesen, aber scheinbar brav enthaltsam sind? Doch egal, wo sie es anspricht, alle wollen das Gespräch schnell beenden. Alle haben Angst, sich strafbar zu machen. Nur der beste Freund will kurz reden, doch Hilfe hat auch er erst einmal nicht parat. Er schlägt stattdessen Sex vor, jetzt bestehe schließlich kein Risiko mehr. Das ist natürlich plakativ, aber „Das Ereignis“ ist eben ohnehin kein subtiler Film.
Hier wird die Botschaft ohne Raum für Widerworte und unmissverständlich transportiert. Das ist dann sicher nicht so herausragend-ambivalent wie bei „Niemals selten manchmal immer“, aber gerade deshalb womöglich der richtige Film zur richtigen Zeit. Denn es ist nun einmal das, was passiert, wenn die Möglichkeit zum legalen Schwangerschaftsabbruch fehlt. Dass „Das Ereignis“ schockierende Szenen hat, liegt so auch nicht daran, dass Diwan unbedingt provozieren will.
Die Realität ist eben einfach schockierend. Hier wird nichts beschönigt und so wird „Das Ereignis“ wahrscheinlich niemand kalt lassen – auch weil das Drama jenseits seiner eindringlichen Szenen immer voller Empathie für Anne ist. Und genau das ist die Kraft von gut gemachten Kino. Es werden Emotionen geweckt. Und „Das Ereignis“ ist über weite Strecken verdammt gut gemachtes Kino.
Fazit: Ein von einer herausragenden Hauptdarstellerin angeführter, starker und eindringlicher Film, der eine biographische Geschichte aus dem Jahr 1963 erzählt und trotzdem gerade für die Diskussion im Jahr 2021 ungemein wichtig ist.
Wir haben „Das Ereignis“ auf dem Filmfestival in Venedig gesehen, wo er als Teil des offiziellen Wettbewerbs gezeigt wurde.