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    Full Metal Jacket
    Kritik der FILMSTARTS-Redaktion
    5,0
    Meisterwerk
    Full Metal Jacket
    Von Ulrich Behrens

    Die Frage ist oft diskutiert worden: Kann es einen Antikriegsfilm geben? Truffaut hatte behauptet: Nein, Antikriegsfilme sind unmöglich, weil alle Filme über den Krieg letztlich Kampf als eine Art Vergnügen erscheinen lassen, als Abenteuer. Man könnte die Frage erweitern: Sind nicht Antikriegsfilme schon deswegen unmöglich, weil das Kriegsgeschehen selbst, das in solchen Filmen weitgehend bestimmend ist, kaum Auskunft über die Ursachen, Konflikte, Entscheidungen usw. geben kann, die zu einem Krieg führen? Der amerikanische Kriegsfilm der letzten 30 Jahre hatte vor allem den Vietnamkrieg zum Thema. Während neuere Filme dieser Art wie etwa „We were soldiers“ Vietnam zum Anlass für eine neue produktive Kriegsideologie ge- und missbrauchen, gab sich Kubricks „Full Metal Jacket“ noch ganz im Sinne eines Versuchs, im Kriegsgeschehen selbst die Ablehnung des Krieges als Mittel der Politik zu finden. Der Film stieß auf ein zwiespältiges Echo. Besonders der zweite Teil, der in Vietnam spielt, wurde als missglückt betrachtet.

    Parris Island, Rekrutenausbildung für den Einsatz in Vietnam, etwa 1968. Die Gefreiten, darunter J. T. Davis, genannt Private Joker (Matthew Modine), Leonard Lawrence, genannt Private Gomer Pyle (Vincent D’Onofrio) und Private Cowboy (Arliss Howard) unterliegen der strengen Ausbildung durch Gunnery Sergeant Hartman (R. Lee Ermey, früher selbst Rekrutenausbilder), der sich mit folgenden Worten vorstellt: „I am Gunnery Sergeant Hartman, your Senior Drill Instructor. From now on, you will speak only when spoken to, and the first and last words out of your filthy sewers will be ›Sir‹. Do you maggots understand that? [...] Bullshit! I can’t hear you; sound off like you’ve got a pair!“

    Hartmans Auftrag ist sonnenklar. Und Kubrick zeigt in diesem ersten Teil des Streifens, wie Hartman ihn versteht: „You are nothing but unorganized garbage pieces of amphibian shit.“ Aus dieser „Scheiße“ sollen Kampfmaschinen produziert werden – im wahrsten Sinn: produziert werden. Hartman striezt den „Abfall“, den er vor sich hat, durch den Dreck, bis zum Umfallen. Seine Sprache besteht aus einer Mischung von sexuellen Anspielungen und erbärmlichen Erniedrigungen. Die Waffe, sagt er z.B., ist für die Rekruten das einzige Weibliche, das akzeptiert wird. Mit ihr haben sie ins Bett zu gehen. Jeder, der Hartmans Meinung nach einen Fehler gemacht hat, fragt er, ob er ein dreckiger Schwanzlutscher sei.

    Besonders im Visier hat Hartman den übergewichtigen Private Leonard, der es z.B. nicht schafft, Hindernisse zu überwinden. Hartman macht ihn fertig. Erst als er sieht, wie treffsicher Leonard schießen kann, scheint er für ihn etwas zu taugen. Die anderen Rekruten glauben, ihre Subjektivität, die hier aus ihnen heraus geprügelt werden soll, beibehalten zu können, wenn sie die Ausbildung ertragen, durchstehen. Leonard jedoch schafft dies nicht. Kurz vor dem geplanten Einsatz in Vietnam kommt es zu einer blutigen Katastrophe ...

    Vietnam. Private Joker wird als Kriegsberichterstatter bei der Militärzeitung „Stars & Stripes“ eingesetzt und hat Private Rafterman (Kevin Mayor Howard) zur Seite. Joker trägt auf seinem feschen Military-Outlook ein Peace-Zeichen, fällt durch sarkastische Bemerkungen auf und kann sich eine Weile lang dem Kriegsgeschehen entziehen, während die anderen in den Tod ziehen. Doch als die Tet-Offensive naht, werden auch Joker und Rafterman in eine kämpfende Einheit einbezogen. Dort treffen sie u.a. auf Animal Mother (Adam Baldwin), einer jener Soldaten, wie sie sich Hartman wünschte: eine Killermaschine. Als die Einheit in einem verwüsteten Ort unter Beschuss der Nordvietnamesen gerät und ein Scharfschütze mehrere Soldaten aus dem Hinterhalt tötet, beschließen die anderen, dem Heckenschützen den Garaus zu machen. Sie nähern sich dem Gebäude und können den Schützen stellen. Eine vietnamesische Frau ...

    Kubrick schildert die Rekrutenausbildung in Parris Island in einer Intensität, wie ich es selten in einem anderen Film gesehen habe. Die gewaltsame Metamorphose der Privates in Killermaschinen wird in allen Einzelheiten nahegebracht. Die Verzweiflung Private Gomer Pyles, die in einem psychischen Desaster endet, das sich gegen Hartman und ihn selbst richtet, ist eine Entwicklung, die sich im zweiten Teil des Films auf analoge Weise wiederholt. Die Beschwörung der „Werte der westlichen Welt“, der Freiheit usw. wird im ersten Teil des Films mit einer Realität konfrontiert, in der dies alles nicht mehr zählt. Die Moral dieser Rekrutenausbildung ist: Nur wenn Du Dich zur ent-subjektivierten Kampfmaschine formen lässt, kannst Du diese Werte verteidigen. Aber diese Moral entpuppt sich als bloßer Schein. Hartman sieht in den Rekruten „ungeformte Scheiße“, was nichts anderes bedeutet, als dass all das, was sie bisher waren, woran sie glaubten und wofür sie lebten, nicht nur nichts bedeutet, sondern wertloser Dreck ist. Schon das offenbart, dass es in Hartmans Ausbildung und im Krieg nicht um die Verteidigung dieses als „Scheiße“ gebrandmarkten Lebens geht.

    Und noch etwas stellt sich als Illusion heraus: Die Rekruten – allen voran der zynische Private Joker, der glaubt, seine moralischen Werte während der Ausbildung und erst recht im Kriegsgeschehen aufrecht erhalten zu können – gehen nach Vietnam und erweisen sich (in unterschiedlichem Ausmaß) als das, was sie werden sollten: als Kampfmaschinen. Ihr Glaube, im Krieg Regeln einhalten zu können, erweist sich als trügerisch. Private Jokers Moral kann dem Kampfgeschehen und seinen Gesetzen keinen Einhalt gebieten. Das Gebäude, in dem sich der Heckenschütze verborgen hält und aus dem er mehrere Soldaten erschießt, wirkt wie ein teuflischer Tempel. Dort wohnt kein Gott, keine Moral, keine Gerechtigkeit, keine Menschlichkeit. Von dort kommt nur der Tod. Als die Soldaten das Gebäude erreichen und den Heckenschützen stellen, sehen sie eine junge Frau am Boden liegen, die – tödlich verletzt – darum bettelt, man solle sie erlösen. Private Joker sagt zu den anderen: „We can’t just leave her like this.“ Die anderen überlegen, einige wollen gehen, Private Joker wiederholt, dass man sie nicht einfach so da liegen lassen könne. Es ist ruhig, die Worte werden fast geflüstert. Private Joker erschießt die Frau – eine Frau, die ihre Heimat verteidigen wollte.

    Die Parallelen zwischen den Szenen in Parris Island und Vietnam sind frappierend. Die Rekrutenausbildung endet mit dem Tod Hartmans und Private Gomer Pyles. Private Joker ist entsetzt, hilflos – und geht nach Vietnam. Die Gesetze des Krieges gehen schon in der Rekrutenausbildung über Leichen, ohne Gnade. Private Joker hatte immer wieder versucht, Gomer Pyle zu helfen, damit ihn Hartman nicht immer wieder ins Visier nimmt. Die Tötung Hartmans durch Gomer Pyle und dessen anschließender Selbstmord sieht Private Joker als moralische und menschliche Katastrophe. Doch sein Name ist Symbol. Er ist ein Joker im Spiel des Krieges. In Vietnam tötet er eine Heckenschützin und vollzieht diese Kriegsregeln, wie er es nie gewollt hatte. Er ist längst Teil des Krieges. Seine moralische Überzeugung, seine Distanz zum Krieg, sein schwarzer Humor, all das hat hier nichts, gar nichts zu bedeuten. Was sich in der Rekrutenausbildung abspielte, wiederholt sich auf dem Kriegsschauplatz. Gomer Pyle ist tot, Hartman ist tot, die junge vietnamesische Heckenschützin ist tot. Der Krieg geht weiter, noch lange Jahre, mit Flächenbombardements vor allem gegen die Zivilbevölkerung, mit Napalm, mit Kriegsverbrechen wie in My Lai, mit Folter und Vergewaltigung.

    Kubricks Film enthüllt zwei Welten, die unterschiedlichen Regeln gehorchen, obwohl die Welt des Krieges der Welt des Nicht-Krieges entspringt. Er entzaubert die Illusion, über Regeln zum Schutz der Zivilbevölkerung, zur Behandlung von Kriegsgefangenen usw. könne dem Krieg in seinen Exzessen irgendeine Grenze gesetzt werden. Ist es Mord, wenn Gomer Pyle seinen Peiniger ermordet? Sicher, hätte er sich danach nicht selbst umgebracht, wäre er vor ein Kriegsgericht gestellt worden. Denn diese Tat war die eines Verzweifelten, der seine Subjektivität nicht verlieren wollte, aber daran irre geworden ist: eine Tat aus der Nicht-Kriegs-Welt gegen die Welt des Krieges.

    Ist es Mord, als Private Joker die vietnamesische Heckenschützin tötet, die ihn selbst darum gebeten hat? Ist es ein „Gnadenschuss“? Das spielt keine Rolle. Im Krieg ist – wenn auch nicht rechtlich – alles erlaubt. Die Bestrafung von Kriegsverbrechen ist mehr ein Zufall, denn die Regel, und geschieht nur dann, wenn die Welt des Nicht-Krieges der Welt des Krieges einmal Grenzen setzen kann. Aber die Welt des Nicht-Krieges produziert immer wieder die Welt des Krieges, und so bleibt die Bestrafung die Ausnahme und der Krieg mit all seinen Exzessen die Regel.

    Für die junge Frau, die offenbar tödlich verletzt wurde, war es vielleicht Erlösung von ihrem Leid. Aber was blitzte hier in Private Joker auf? Ein Rest von Mitgefühl, selbst für einen Kriegsgegner, der gerade etliche Kameraden in den Tod geschickt hatte? Ein Rest von Mitgefühl, das sich ausgerechnet im Tod materialisiert?

    Kubricks „Full Metal Jacket“ ist ein unpatriotischer Film, der in keiner Weise den Krieg glorifiziert. Er legt auf skrupellose Art offen, dass ein Soldat keine Chance hat, etwas aus der ersten Welt – der Nicht-Kriegs-Welt – herüber zu retten, es sei denn den „Gnadenschuss“. Private Joker steht am Schluss in dem brennenden Gebäude, erschießt die junge Vietnamesin, als wenn es ein alltäglicher Akt wäre. Das ist es auch. Jedenfalls im Krieg. Er vollzieht dies ruhig, ohne Skrupel, ohne Angst, ohne eine Miene zu verziehen. Der Schuss, den er auf die Frau abgibt, ist die zweite Kapitulation, die er – und wir – erleben müssen: Die Kapitulation vor dem Krieg.

    Antikriegsfilm? Ja, ich glaube „Full Metal Jacket“ ist ein Antikriegsfilm, in dem es Kubrick gelang, aus der Rekrutenausbildung und dem Kriegsgeschehen heraus ein starkes und zugleich verstörendes Gefühl gegen den Krieg zu entwickeln. Truffauts Prophezeiung, man könne den Krieg nicht darstellen, ohne in die Falle zu tappen, den Kampf als irgendwie vergnügliche Action zu inszenieren, erweist sich in diesem Film als falsch. Wenn „These boots were made for walking, and that’s just what they do“ von Nancy Sinatra erklingt, erhält Kubricks Botschaft (und der Song selbst) eine sarkastischen Ausdruck: Deine Stiefel trägst Du für den Krieg, für nichts anderes.

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