Ein herausragendes Kino-Drama
Von Björn BecherDer französische Schriftsteller und Theater-Regisseur Florian Zeller hat sich in den vergangenen Jahren den Ruf als aktuell bedeutendster Dramatiker erarbeitet. Seine Stücke und ihre Aufführungen werden gefeiert, Stars wie Isabelle Huppert stehen Schlange, um unter seiner Regie auf der Bühne stehen zu dürfen. Mit „The Father“ legt Zeller nun sein Kinodebüt als Regisseur vor – basierend auf seinem gleichnamigen Theaterstück „Le Père“, das nach seiner Premiere 2012 weltweit aufgeführt und mit Preisen überhäuft wurde.
Wer nun befürchtet, dass Zeller uns abgefilmtes Theater beschert, könnte allerdings kaum weiter danebenliegen. Vielmehr nutzt er die spezifischen Mittel des Kinos, um uns Demenz so eindringlich darzustellen, wie es kaum jemand bislang in einem Film geschafft hat. Unterstützt von dem hervorragenden Schauspielgespann Anthony Hopkins („Das Schweigen der Lämmer“) und Olivia Colman („The Crown“) gelingt ihm so ein mitreißendes und bewegendes Drama, das unbedingt auf die große Leinwand gehört.
Zwei Schauspielgrößen auf Augenhöhe: Olivia Colman und Anthony Hopkins.
Anthony (Anthony Hopkins) ist verwirrt. Gerade hat er sich noch mit seiner Tochter Anne (Olivia Colman) gestritten, nachdem er erneut eine Pflegekraft vergrault hat. Sie hat ihm im Gegenzug eröffnet, dass sie für die Liebe von London nach Paris ziehen will und sich deshalb nicht mehr um ihn kümmern kann. Keine Minute später sitzt dann allerdings schon wieder ein ihm völlig fremder Mann (Mark Gatiss) im Wohnzimmer, der Anthony erklärt, Annes Ehemann Paul zu sein.
Er wisse nichts von einem neuen Mann oder einem Umzug nach Paris. Vor allem behauptet er, dass sich Anthony nicht in seiner eigenen Wohnung, sondern der von Tochter und Schwiegersohn befindet. Das ist natürlich Nonsens, schließlich kennt Anthony seine eigenen vier Wände und wenn Anne heimkommt, wird sich das schon auflösen. Doch die Frau (Olivia Williams), die kurz darauf mit frischem Hühnchen die Wohnung betritt, hat er ebenfalls noch nie gesehen…
Schon in den ersten Minuten von „The Father“ wird deutlich, wie konsequent Zeller und sein schon für die Theatervorlage bei der Übertragung in die englische Sprache behilflicher Co-Autor Christopher Hampton („Abbitte“) die Sicht der Titelfigur einnehmen. Wir erleben die Welt wie sie auch Vater Anthony erlebt. Wer vorab nicht weiß, dass es sich bei „The Father“ um ein Demenz-Drama handelt, kann das zwar an Annes Kommentaren und einer langen Diskussion über eine möglicherweise geklaute oder vielleicht doch nur verlegte Uhr erkennen. Aber genauso gut könnte es auch der Auftakt einer Mystery-Geschichte sein.
In einer solchen fühlt sich schließlich auch Anthony, der immer weniger versteht, was vor sich geht, obwohl er doch eindeutig bei wachem Verstand ist und alles erfassen kann. So schafft es Zeller, einen hervorragenden Einblick davon zu vermitteln, wie frustrierend es sein muss, wenn man seiner eigenen Wahrnehmung nicht mehr trauen kann. Dabei hilft ihm das sensationelle Spiel des für einen Oscar nominierten Anthony Hopkins. Sein Anthony ist redegewandt, er kann starrköpfig, böse, bissig, aber auch extrem charmant sein und strahlt eigentlich immer aus, die Situation unter Kontrolle zu haben …
Anthony gibt den charmanten Gastgeber.
… was er aber natürlich nicht hat. Spätestens wenn mit Rufus Sewell („The Man In The High Castle“) ein weiterer Schauspieler als Paul auftaucht und man sich fragt, warum die nun wieder von Olivia Colman gespielte Anne dasselbe Outfit wie vorhin trägt, ist endgültig klar, was schon in den ersten Minuten zu erahnen ist: Personen, Orte, Zeiten, alles vermischt sich im Kopf des dementen Rentners. Trank er gerade noch seinen Morgentee, soll er plötzlich zum Abendessen erscheinen. Hing gerade noch ein geliebtes Gemälde an der Wand, ist dort plötzlich ein leerer Fleck.
Obwohl „The Father“ so stark die Sicht des dementen Protagonisten einnimmt, kommt auch seine sich so fürsorglich um ihn kümmernde Tochter nicht zu kurz. Für kurze Momente bricht Zeller aus der Perspektive des Vaters aus und zeigt die zunehmend verzweifelte Frau, die so viel opfert. Oscarpreisträgerin Olivia Colman („The Favourite“) ist dabei mit der tragischen Mischung aus Verzweiflung und Liebe einmal mehr mitreißend.
„The Father“ spielt scheinbar fast nur in einer einzelnen Wohnung. Aber je nachdem, wie sorgfältig man die Räume und Hintergründe im Auge behält, zeigt sich nach und nach, wie viele verschiedene Schauplätze in dieser „Wohnung“ kumuliert sind: Kleine Abweichungen im detailreichen und meisterhaften Szenenbild verdeutlichen, dass wir und Anthony uns zwar immer wieder in ein und demselben Flur wähnen, uns aber in Wahrheit an verschiedenen Orten aufhalten. Auch hier nutzt Zeller die Vorteile des Kinos gegenüber dem Theater, wo man nicht alle zwei Minuten umbauen kann – und zwar erst recht nicht, ohne dass es das Publikum sofort bemerkt.
Wie genial das Theaterstück fürs Kino angepasst wurde, zeigen dann aber vor allem die fließende Kameraführung von Ben Smithard („Blinded By The Light“) sowie der manchmal kaum wahrnehmbare und gerade deshalb herausragende Schnitt von Yorgos Lamprinos („Auf der Couch in Tunis“). Dank Kamera und Schnitt gleiten wir durch die Geschichte, als wäre das alles ein fortlaufender Plot statt der ständigen Sprünge durch Raum und Zeit, denen wir hier eigentlich beiwohnen. So setzt sich für uns erst langsam ein belastbares Bild der wahren Verhältnisse zusammen – was sicher nicht einer gewissen Ironie entbehrt: Während Anthony immer weniger versteht, verstehen wir immer mehr – bis hin zum finalen Twist, der zwar früh zu erahnen, aber trotzdem gnadenlos wirkungsvoll ist. Dieser setzt dann in den letzten Minuten auch noch mal ein dickes Ausrufezeichen – für Anthony Hopkins Oscar-Ambitionen sowie für einen bis dahin meist subtilen, aber immer meisterhaften Film.
Fazit: Mit „The Father“ gelingt Florian Zeller eine herausragende Adaption seines eigenen Bühnenstücks. Ganz großes Kino!