Ein Horror-Hotel in der deutschen Pampa
Von Lars-Christian DanielsHorror und Hotel – das passt einfach ganz hervorragend zusammen! Schließlich wissen wir bereits seit Stanley Kubricks meisterhafter Stephen-King-Verfilmung „Shining“ (und der etwas weniger gelungenen Fortsetzung „Doctor Sleeps Erwachen“), Alfred Hitchcocks Schwarz-Weiß-Klassiker „Psycho“ oder auch James Mangolds Slasher-Schocker „Identität“, dass abgelegene Hotel- und Motelanlagen ganz hervorragende Kulissen für stimmungsvolles Gruselvergnügen sein können.
Im deutschen Genrekino muss man nach hochkarätigen Horrorperlen schon ganz genau Ausschau haten, doch setzt Filmemacher Michael Venus in „Schlaf“ zumindest schon mal auf den gleichen Schauplatz: In seinem Langfilmdebüt verschlägt es eine junge Frau in ein Waldhotel, das zum Epizentrum eines Horrortrips wird. Getragen von zwei überragenden Hauptdarstellerinnen punktet der Film mit verstörenden Bildern und einer düsteren Atmosphäre – die Geschichte allerdings verliert sich in der zweiten Filmhälfte in einem überkonstruierten Wirrwarr aus Realität und Traumwelt, das nicht wenige Zuschauer mit einem dicken Fragezeichen auf der Stirn zurücklassen dürfte.
Zwei herausragende Hauptdarstellerinnen: Sandra Hüller und Gro Swantje Kohlhof als Mutter und Tochter.
Die Flugbegleiterin Marlene (Sandra Hüller) wird von schrecklichen Alpträumen gequält. Sie spielen im Waldhotel „Sonnenhügel“, das sie eines Tages in einer Anzeige im Bordmagazin ihrer Airline wiedererkennt. Um der Sache auf den Grund zu gehen, fährt sie in die Provinz und quartiert sich in einem Zimmer des Hotels ein – erleidet vor Ort aber einen Zusammenbruch und fällt in einen Stupor, also eine völlige körperliche und geistige Erstarrung. Ihre Tochter Mona (Gro Swantje Kohlhof) besucht sie im Krankenhaus des nahegelegenen Dorfes Stainbach und geht im Hotel auf Spurensuche: Während Hotelbesitzer Otto (August Schmölzer) ihr freundlich gesonnen scheint, begegnet seine Gattin Lore (Marion Kracht) ihr distanziert. Schon in der ersten Nacht hat Mona einen furchtbaren Alptraum – der nur der Auftakt zu einem kräftezehrenden Horrortrip ist, bei dem schon bald die Grenzen zwischen Realität und Fantasie verwischen…
Mit Arthouse-Star Sandra Hüller („Toni Erdmann“), die in den vergangenen zehn Jahren mehr als ein Dutzend Filmpreise abgeräumt hat, und Nachwuchstalent Gro Swantje Kohlhof, die mit ihren herausragenden Auftritten im „Tatort: Die Wiederkehr“ und im „Tatort: Rebecca“ ein Millionenpublikum begeisterte, weiß Regisseur Michael Venus zwei der besten deutschen Schauspielerinnen ihrer Generation in seinem Ensemble. Und die beiden liefern in seinem eigenwilligen Horror-Heimatfilm, zu dem er mit Thomas Friedrich auch das Drehbuch schrieb, erneut eine mitreißende Performance ab: Während Hüller, die große Teile des Films in einem Krankenhausbett verbringt, allein durch ihr beeindruckendes Mienenspiel die ganze Verzweiflung ihrer körperlich stark gehandicapten Figur zum Ausdruck bringt, mausert sich Kohlhof nach verhaltenem Auftakt zur perfekten Besetzung der Schlüsselfigur und wird wie Hüller schon rein physisch extrem gefordert.
Von verstörenden Würgeszenen am Mittagstisch, die entfernt an berühmte Bilder aus William Friedkins 70er-Jahre-Schocker „Der Exorzist“ erinnern, über eine wollüstige Nackt-Performance im Stile moderner Theaterinszenierungen bis hin zum brutalen Überlebenskampf in einem schummerigen Waschkeller wird Kohlhof alles abverlangt und dem Zuschauer die ganze Bandbreite an Emotionen geboten – die Angst vor dem titelgebenden Schlaf, die Sorge um die am Rande zum Wahnsinn wandelnde Mutter, die aufkeimenden Gefühle für den sympathischen Supermarktverkäufer Christoph (Max Hubacher) oder die wenigen heiteren Momente mit der Hotelangestellten Franzi (Martina Schöne-Radunski). Auch August Schmölzer („Die Landärztin“) wird als polternder Patriarch und visionärer Hotelbesitzer gefordert, erhält jedoch in seiner lange Zeit undurchsichtigen, aber recht eindimensional gehaltenen Rolle bei weitem nicht so viel Raum zur Entfaltung.
Mit fortschreitender Spieldauer verfestigt sich auch der Eindruck, dass man vieles von dem, was Michael Venus an Horrormotiven auffährt, schon einmal in ähnlicher Form gesehen hat: Neben dem einleitend erwähnten Mikrokosmos Hotel, der vielsagenden Zimmernummer „187“ oder gruseligen Zeichnungen, die schon im Heinz-Rühmann-Klassiker „Es geschah am hellichten Tag“ oder im Netflix-Hit „Stranger Things“ für Gänsehautmomente sorgten, sieht Mona (anders als ihre Mitmenschen) auch längst verschiedene Selbstmörder leibhaftig vor sich hängen und liegen – ganz so wie der kleine Cole in M. Night Shyamalans Mystery-Meisterwerk „The Sixth Sense“. Alles nicht schlecht gemacht und wirkungsvoll inszeniert, aber eben auch nicht sonderlich originell.
Wenn der Gastgeber einen mit der Axt in der Hand begrüßt, ist das selten ein gutes Zeichen.
Die üblichen Genretricks inszeniert Venus routiniert und ohne plumpe Effekthascherei – darunter einige Einstellungen, in der die verängstige Hauptfigur schon schreckliche Dinge kommen sieht, die sich für das Publikum noch im Off verbergen, oder schrill vertonte Schockmomente in eben jener Sekunde, in der sich der Zuschauer nach einem knackigen Jump Scare gerade wieder entspannt zurücklehnen wollte. In der zweiten Filmhälfte dünnen sich die elektrisierenden Momente aber allzu schnell aus – der faule Zauber mit einem kleinen Holzwildschein als Schlüssel zur Auflösung will ja auch noch erklärt werden. Und hier hat „Schlaf“ seine größten Schwächen.
Denn die Handlung wirkt auf der Zielgeraden zunehmend konfus: Als wären die binnen Sekunden hintereinander geschnitten Sprünge zwischen Monas Traumwelt und ihrem nicht minder gefährlichen Wachzustand nicht schon hektisch und herausfordernd genug, setzt der Filmemacher seine Handlung durch die Auftritte der rachsüchtigen Trude (Agata Buzek) auch noch in einen historischen und politischen Kontext. Zwischenzeitlich wähnt man sich gar auf einem Treffen eines AfD-Ortsverbands in einem Wirtshaus in der Pampa – das bringt die komplex arrangierte Handlung kaum voran, trägt aber seinen Teil zum überkonstruierten Gesamteindruck bei. So ist „Schlaf“ ein Film, den man vielleicht zweimal schauen muss, um ihn in Gänze zu begreifen – doch auch nach dem Entwirren der Handlungsfäden will sich der ganz große Aha-Effekt nicht einstellen.
Fazit: Lebst du noch oder träumst du schon? „Schlaf“ ist düsteres deutsches Genrekino mit herausragenden Hauptdarstellerinnen und spannenden Ansätzen – sowie einer Geschichte, die bei großen Vorbildern abkupfert und in der zweiten Filmhälfte zunehmend konfus und überladen wirkt.
Wir haben „Schlaf“ im Rahmen der Berlinale 2020 gesehen, wo er in der Sektion „Perspektive Deutsches Kino“ gezeigt wurde.