Der spannendste Sonntagsabend-Krimi seit Jahren!
Von Lars-Christian DanielsMünchen, 22. Juli 2016. Der 18-jährige Schüler David S. betritt das Olympia-Einkaufszentrum (OEZ) und tötet im und um das Gebäude neun Menschen. Fünf weitere Personen werden verletzt. Als die Einsatzkräfte den Amokläufer gut zweieinhalb Stunden später stellen können, erschießt er sich selbst. Zu diesem Zeitpunkt ist in der Innenstadt bereits eine Panik ausgebrochen, in deren Zuge mehr als 30 weitere Menschen verletzt werden: Während die Münchner Polizisten und ihr Pressesprecher Marcus da Gloria Martins bemerkenswert besonnen vorgehen und erstklassige Arbeit leisten, kursieren in den sozialen Medien wilde Gerüchte über Schießereien in der Innenstadt und weitere Täter, die es – so stellt sich später heraus – gar nicht gegeben hat.
Gut dreieinhalb Jahre später erzählt Pia Strietmann eine ganz ähnliche Geschichte. In ihrem hochspannenden „Tatort: Unklare Lage“ setzt sich die Regisseurin intensiv mit den heutigen Problemen der Polizeiarbeit auseinander: sensationslüsternen Medien, die rund um die Uhr berichten und so nah wie möglich am Geschehen sein wollen; Augenzeugen, die dem Täter mit Live-Videos sogar in die Karten spielen könnten; eine unübersichtliche Flut an Falschinformationen, die aufgrund der Gefahrenlage dennoch ernst genommen und ausgewertet werden wollen. Das Ergebnis: ein 90-minütiger Adrenalin-Trip mit wichtiger Botschaft, der von der ersten Sekunde an mitreißt und zu den besten Münchner „Tatort“-Folgen überhaupt zählt.
München, eine Stadt im Ausnahmezustand ...
In einem Münchner Linienbus fallen Schüsse: Der Schüler Tom Scheuer (Manuel Steitz) tötet einen Kontrolleur und flieht. Wenig später kann ein SEK ihn stellen – und erschießt ihn. In Toms Rucksack findet die Polizei Ersatzmagazine und ein Funkgerät. Hat der junge Mann etwa einen Amoklauf an seiner Schule geplant? Während die Hauptkommissare Ivo Batic (Miroslav Nemec) und Franz Leitmayr (Udo Wachtveitl) sich im Umfeld des Täters umhören, hält ihr Kollege Kalli Hammermann (Ferdinand Hofer) in der Einsatzzentrale unter Leitung von Krisenexpertin Karola Saalmüller (Corinna Kirchhoff) die Stellung. Spuren auf dem Rechner des Toten, die Angaben einer Augenzeugin und Bilder einer Überwachungskamera bestätigen die Befürchtung, dass ein zweiter Täter unterwegs ist und einen Bombenanschlag plant. In der Stadt bricht Panik aus. Ins Visier der Ermittler geraten Toms Bruder Maik (Max Krause), seine Freundin Janja (Pauline Werner) und sein Kumpel Dennis (Leonard Proxauf), der oft mit Tom Ballerspiele gezockt hat…
Wenn die beliebteste deutsche Krimireihe in den vergangenen Jahren mal die ausgetretenen Whodunit-Pfade verließ und stattdessen ein drohendes Attentat in einer Großstadt thematisierte, kamen oft erstklassige „Tatort“-Folgen dabei heraus: Im Hamburger „Tatort: Der Weg ins Paradies“ war es 2011 beispielsweise der (leider viel zu früh wieder abgesetzte) Undercover-Ermittler Cenk Batu, der in letzter Sekunde die Pläne einer islamistischen Terrorzelle durchkreuzte. 2017 hatten die Dortmunder Kollegen um Enfant Terrible Peter Faber weniger Erfolg: Im „Tatort: Sturm“ forderte die Detonation einer Bombe am Schluss viele Menschenleben und ließ nicht nur die Ermittler aus dem Ruhrpott, sondern auch das TV-Publikum geschockt zurück. Der fast in Echtzeit ablaufende „Tatort: Unklare Lage“ droht ebenfalls mit einem großen Knall im Drama zu enden – und es ist an den Münchner Einsatzkräften, die Sache in den Griff zu bekommen.
Während die Motive der Täter in beiden genannten „Tatort“-Folgen der jüngeren Vergangenheit recht ausführlich beleuchtet wurden, wählt Drehbuchautor Holger Joos („Ein offener Käfig“) allerdings einen anderen Ansatz: Die Motivation des Täters, seine Mitschüler zu ermorden, wird von dessen Freundin Janja nur in einem Satz umrissen: „Das waren Idioten!“ Der Erschossene interessiert die Filmemacher nicht sonderlich – und das ist auch überhaupt nicht schlimm. Viel reizvoller als ein mögliches Psychogramm gestaltet sich nämlich die Eigendynamik, die die Bilder vom Tatort und die Bemühungen der Polizei, einen möglichen zweiten Täter mit dem Gang an die Öffentlichkeit zu finden, auslösen und die die Probleme der heutigen Polizeiarbeit bemerkenswert authentisch auf den Punkt bringt: Kaum rückt das SEK an, landen Bilder davon auf Twitter, kaum meint jemand, den Täter gesehen zu haben, posaunt er es raus in die digitale Welt. Verdächtigungen stehen ungeprüft im Raum, Ängste schaukeln sich hoch, die Situation gerät außer Kontrolle. Wer soll da den Überblick behalten?
Die Münchner Kommissare – nach fast 30 gemeinsamen Dienstjahren nicht so schnell aus der Ruhe zu bringen – tun ihr Bestes, und der Zuschauer ist (fast) immer mittendrin statt nur dabei. Schon in den Anfangsminuten wird das Publikum durch wackelige Handkamerabilder förmlich in den Fall hineingesogen – und sieht man von diesem hektischen Auftakt im Linienbus ab, weicht die Kamera Batic, Leitmayr und Hammermann in der Folge kaum noch von der Seite. Der Zuschauer hetzt mit ihnen durch Parkhäuser und U-Bahn-Stationen, über Rolltreppen und Absperrzäune und weiß dabei nicht mal, ob es einen zweiten Täter überhaupt gibt. Kurze Bestandsaufnahmen in der Einsatzzentrale schaffen den nötigen Überblick – und kaum scheidet ein Tatverdächtiger aus, steht bereits ein neuer parat. Auch mit den Aussagen der Augenzeugen – eine interessante Parallele zum vielgelobten Münchner „Tatort: Die Wahrheit“ von 2016 – ist wenig anzufangen: Kaum jemand ist sich wirklich sicher, ihre Angaben widersprüchlich, ihre Beobachtungen wage.
... und der zweite Täter könnte überall sein, wenn es ihn denn überhaupt gibt.
Die Jagd auf den (möglichen) zweiten Attentäter ist packend und mitreißend arrangiert, erlaubt dem Publikum kaum Verschnaufpausen, und das ist nicht nur dem tollen Drehbuch, sondern auch der tollen Arbeit der weiteren Filmemacher geschuldet: Regisseurin Pia Strietmann („Tage, die bleiben“) setzt auf eine temporeiche Inszenierung, spielt gelegentlich gekonnt mit der Erwartungshaltung des Zuschauers und platziert einige tolle Gänsehautmomente (etwa beim Knacken eines Autos im Parkhaus). Die Schnittfrequenz ist hoch, der reduzierte Score verstärkt die düstere Atmosphäre gekonnt, ohne aufdringlich zu wirken, und auch die vielen Außenaufnahmen mit zahlreichen Statisten – im „Tatort“ keine Selbstverständlichkeit – wirken nie künstlich arrangiert, sondern echt, fast dokumentarisch. Und dann ist da noch das dramatische Ende, über das diskutiert werden wird – natürlich auch in den sozialen Medien.
Fazit: Pia Strietmanns „Tatort: Unklare Lage“ ist eine der spannendsten „Tatort“-Folgen aller Zeiten.