Ein Lebensabend in Berlin
Von Janick NoltingHolocaust, Sterbehilfe, Familiendrama, Generationenkonflikt, Stadtportrait - und das alles in nur 79 Minuten! Was sich Regisseur Anatol Schuster in seinem zweiten Spielfilm nach seinem Debüt „Luft“ vorgenommen hat, grenzt in der Theorie fast schon an Größenwahn. Noch dazu hat Schuster „Frau Stern“ ganz ohne Fördermittel und mit jeder Menge Improvisation gedreht. Herausgekommen ist ein faszinierendes Indie-Projekt, bei dem es fast an ein Wunder grenzt, wie gefühlvoll all die genannten Themen zu einer ebenso melancholischen wie lebensfrohen Charakterstudie verdichtet werden.
„Ich will sterben!“, sagt die titelgebende Frau Stern (Ahuva Sommerfeld) zu Beginn des Films. Wenig später begleiten wir die 90-Jährige durch ihre Heimat in Berlin Neukölln, wo sie sich eine Waffe besorgen möchte, um ihr Leben zu beenden. Während im Kinojahr 2019 vornehmlich ältere Herren wie Robert Redford („Ein Gauner und Gentleman“) oder Michael Caine („Ein letzter Job“) im hohen Alter noch einmal bewaffnete Raubzüge planen, ist Frau Stern nun eine Art Gegenentwurf zu ihren übermütigen männlichen Kollegen. Sie hat genug erlebt und das Leben einfach nur noch satt. Weil ihr aber weder Bekannte noch der Kioskbesitzer um die Ecke dabei helfen wollen, greift sie zu anderen Mitteln. Aber das Sterben gestaltet sich schwieriger als gedacht und auch ihre Enkelin Elli (Kara Schröder) ist ihr bei dem Vorhaben keine Hilfe. Bei den Gesprächen und gemeinsamen Unternehmungen gerät Frau Stern immer mehr ins Zweifeln an ihrer Mission. Ist es vielleicht doch noch nicht an der Zeit zu gehen?
Frau Stern macht sich auf die Suche nach einer Waffe für ihren Selbstmord ...
Die gescheiterten Selbstmordversuche der Protagonistin könnten so eigentlich auch aus einer schwarzen (britischen) Komödie stammen: Von den Bahngleisen wird sie von einem Spaziergänger aufgehoben, der gerade zufällig vorbeikommt. Aus der Badewanne wird sie ausgerechnet von einem Einbrecherpaar herausgeholt, das gerade dabei ist, ihre Wohnung zu plündern. Und dennoch ist das bei all der düsteren Situationskomik mit so viel Respekt und Ernsthaftigkeit erzählt, dass „Frau Stern“ niemals zur Lachnummer verkommt.
Schuster verhandelt das Älterwerden und die Auseinandersetzung mit dem Tod mit größtmöglicher Feinfühligkeit und lässt dabei seine Hauptfigur strahlen. Kameramann Adrian Campean verpackt die Charakterstudie in sehr raue, aber dadurch auch so greifbare Bilder im strengen 4:3-Format. Hier sieht nichts nach Filmset aus, vielmehr könnte sich das alles gefühlt gerade jetzt irgendwo in irgendeiner Berliner Mietswohnung abspielen. Auch wenn diese zweckdienliche, ungeschönte Bildästhetik wenig Schauwerte bereithält: Dem dokumentarischen Stil des Films kommt das auf jeden Fall zugute! Neu sind all die inhaltlichen Motive in „Frau Stern“ zwar nicht, aber durch die Unmittelbarkeit der Inszenierung erhalten sie dennoch noch mal eine ganz neue Dringlichkeit.
Die zum Zeitpunkt des Drehs 80 Jahre alte Ahuva Sommerfeld in der Hauptrolle ist eine wahre Entdeckung! Mit kratziger Stimme sinniert sie über ihre Vergangenheit, belehrt ihre Enkelin mit Lebensweisheiten oder reißt auch mal den ein oder anderen derben Scherz. Trotz ihres exzessiven Zigarettenkonsums ist ihr Körper immer noch fit, auch wenn der Todestrieb noch so stark ist. Frau Stern ist Schlimmes widerfahren. Den Holocaust hat sie als Jüdin überlebt, ihren geliebten Mann hat sie verloren. Jetzt hat sie schlichtweg keine Lust mehr auf das Leben. Das alles spielt Sommerfeld mit einer ungeheuren Liebenswürdigkeit und Authentizität. Letztere rührt auch daher, dass die Rolle autobiographische Züge trägt und die Darstellerin bei ihrem ersten Leinwandauftritt auch ein Stück weit ihre eigene Geschichte aufarbeitet.
In der wohl emotionalsten Szene des Films tritt Frau Stern vor der Clique ihrer Enkelin bei einer Karaoke-Party auf und singt den Song, den ihr Mann ihr früher immer vorgesungen hat. Allein ihre Blicke reichen aus, dass man darin all die Emotionen, all die Erinnerungen vorbeiziehen sehen kann - und doch behält die Figur immer ihre Geheimnisse. „Frau Stern“ versucht gar nicht erst, eine komplette Lebensbiografie zu erzählen, sondern belässt es bei kurzen, aber intensiven Momentaufnahmen. Es ist genau dieses ständige Wechselspiel aus Öffnen und Verschließen, Annähern und Distanzieren, Schlagfertigkeit und Stillschweigen, das Sommerfelds Schauspiel so mitreißend macht. Allein sie besitzt eine solche Strahlkraft, dass sie ausreicht, um den ganzen Film zu tragen.
... findet stattdessen aber einen Grund, doch noch weiterleben zu wollen.
Auch in den Dialogen zwischen Frau Stern und ihren Kontaktpersonen wie zum Beispiel ihrem Friseur (Murat Seven), der regelmäßig zu Besuch kommt, glänzt der Film. Anatol Schuster lässt seinem Ensemble in diesen Szenen genug Spielraum für Improvisation, was die unterschiedlichen Zusammentreffen so lebensnah und warmherzig wirken lässt. Man möchte all die Charaktere am liebsten umarmen, so sehr wachsen sie einem ans Herz. Zugleich ist „Frau Stern“ aber auch ein nachdenklich stimmender Berlin-Film geworden. Schuster setzt den Kiez als Ort in Szene, an dem die rapiden Veränderungen der Zeit besonders gut sichtbar werden. In dem die Jugendlichen das Leben genießen und gleichzeitig mit ihren ganz eigenen Sorgen zu kämpfen haben, während die unsichtbaren, zurückgezogenen Älteren – in diesem Fall Frau Stern – mitsamt ihren bewegten Lebensgeschichten langsam in Vergessenheit geraten.
Das hört sich zutiefst pessimistisch an, doch der Regisseur zelebriert seine Erzählung mit umso größerer Lebensfreude, sobald sich die Generationen wieder einander annähern, gemeinsam Spaß haben und das Leben genießen. Das kann man als Wunschdenken bezeichnen, doch das wird hier mit einer solchen Leichtfüßigkeit erzählt, dass es niemals in Kitschige oder Sentimentale abrutscht. Schade nur, dass der Film seine Charakterentwicklung etwas oberflächlich auf die Zielgerade treibt. Das erweckt kurzzeitig den Eindruck, dass dann nach der Hälfte doch bereits alles gesagt ist, die restlichen Szenen wirken da lediglich wie Wiederholungen. Vielleicht ist das am Ende alles doch etwas sehr nett und brav zurechtgeschrieben, genug Denkstoff liefert der Film in seinen kurzweiligen 79 Minuten Laufzeit aber dennoch.
Fazit: Die Hauptdarstellerin Ahuva Sommerfeld verstarb Anfang 2019 kurz nach der Premiere von „Frau Stern“. Anatol Schuster hat dieser unscheinbaren, aber zugleich auch unglaublich starken Frau mit seinem Film nicht nur in der letzten berührenden Szene ein würdiges Denkmal gesetzt.