Sprachunterricht für einen Mörder
Von Janick NoltingSelbst wenn man sich auch im Kino eigentlich gar nicht oft genug mit dem Holocaust auseinandersetzen kann, verharrt genau das trotzdem nicht selten in mittlerweile festgefahrenen Erzählformeln, wie man oft besonders dem deutschen Kino gerne vorwirft. Nichtsdestotrotz sind der 75. Gedenktag der Auschwitz-Befreiung und die andauernden weltweiten Debatten um Rechtsextremismus Anlass genug, dass auch im Jahr 2020 weiterhin eine Aufarbeitung des Nationalsozialismus im Film stattfindet. Insofern kommen Vadim Perelmans „Persischstunden“ zur richtigen Zeit. Doch das starke Schauspielduell zwischen seinen beiden Hauptdarstellern kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass dem Drama nur eine sehr fragwürdige Zeichnung seines politischen Szenarios gelingt.
Im Jahr 1942 wird der jüdische Belgier Gilles (Nahuel Pérez Biscayart) in Frankreich von der SS verhaftet und in ein Konzentrationslager gebracht. Nur durch Zufall entkommt er dem Tod: In seiner Tasche trägt er ein persisches Buch bei sich, eine Notlüge über seine Nationalität ist seine Rettung. Der deutsche Hauptsturmführer Klaus Koch (Lars Eidinger) sucht nämlich gerade nach einem Perser, der ihm Farsi beibringt, weil er in Teheran nach dem Krieg ein Restaurant eröffnen will. Gilles lässt sich auf das Spiel ein, obwohl er die Sprache gar nicht beherrscht und sich deshalb einfach selbst ein ausdenken muss. Jeden Moment droht seine Lüge aufzufliegen…
Der jüdische Gilles lebt nur noch, weil er einem Nazi eine selbsterfundene Sprache beibringt.
„Persischstunden“ beginnt absolut vielversprechend: Das Psychoduell zwischen den groß aufspielenden Nahuel Pérez Biscayart („The Intruder“) und Lars Eidinger („Schwesterlein“) ist wie ein Pulverfass, von dem man weiß, dass es irgendwann explodieren wird. Die Frage ist nur, wann und wie? Eidinger darf dabei zwar mit seinen aggressiven Tobsuchtanfällen und finsteren Blicken hier und da mal wieder etwas zu sehr über die Stränge schlagen, gibt aber insgesamt eine wunderbar zwielichtige Figur ab. Wenn sich „Persischstunden“ also ganz auf diese waghalsige Beziehung zwischen Täter und Opfer und deren gegenseitiges Misstrauen einlässt, ergibt das bisweilen ein intensives Kammerspiel.
Da schwankt man innerhalb von Sekunden zwischen Unbehagen, Fassungslosigkeit und einem grotesken Humor, wenn der Hauptsturmführer plötzlich die Schulbank drückt und Fantasie-Vokabeln auswendig lernt. Doch sobald man den Blick ein wenig weiterschweifen lässt, sobald man auf das große Ganze schaut, dann entwickelt „Persischstunden“ einen faden Beigeschmack, der lange Zeit nicht verschwinden will.
„Persischstunden“ verwendet den größten Teil seiner Laufzeit, um hinter die Kulissen des Konzentrationslagers zu blicken. Mehr Laufzeit, als er Gilles und all den anderen Gefangenen und deren Schicksalen widmet. Da werden die Nazi-Aufseher beim Smalltalk am Mittagstisch gezeigt, man singt beim Picknick deutsche Volkslieder, Gerüchte werden quasi „unter Kollegen“ ausgetauscht. Natürlich ist es folgerichtig, wenn auch die Täterperspektive eingenommen wird. Es kann sogar die beklemmende Wirkung noch weiter steigern, wenn ein Film zeigt, wie eine gewisse Form von Alltag konstruiert und gelebt wird, während im Hintergrund die barbarischsten Verbrechen verübt werden.
Fatal wird es allerdings, wenn die Darstellung dieses Alltags bis zur Banalität getrieben wird, wie es in „Persischstunden“ zum Teil geschieht. Spätestens dann, wenn sich Lars Eidinger selbst in die Opferrolle begibt oder gar für kurze Lachnummern herhalten darf, drängt sich doch die Frage auf, ob das entweder einfach nur geschmacklos oder aber verdammt zynisch erzählt ist. Damit soll dem Publikum gar nicht die Mündigkeit abgesprochen werden, derartig ambivalent gezeichnete Figuren einordnen und hinterfragen zu können. Allerdings entfernt sich „Persischstunden“ mitunter so weit von der Sicht der Opfer, dass der Film an einer verharmlosten Darstellung grenzt.
Im umgekehrten Fall wäre es wahrscheinlich ebenso unnötig und geschmacklos gewesen, die bekannten Schockbilder von misshandelten Körpern und Leichenbergen einfach zu reproduzieren. Zumal genau diese Frage der Darstellbarkeit der Holocaust-Schrecken in der Kunst immer wieder neu verhandelt werden muss. Insofern setzt sich „Persischstunden“ vor vornherein zwischen alle Stühle. Da denkt man während des Films vor allem an Laszlo Nemes` „Son Of Saul“ zurück, der mit seinem eingeschränkten Egoperspektiven-Blickwinkel zu der Erkenntnis kam, dass sich der verstörende Lager-Alltag eigentlich nur aus einer derartigen subjektiven Erzählweise ansatzweise auf die Leinwand bringen lässt, um sich diesem Grauen respektvoll zu nähern.
Genau an dieser Stelle versagt „Persischstunden“. Die Kulissen, durch die man sich hier bewegt, wurden zwar detailgetreu nachgebaut, fühlen sich allerdings durchweg wie künstliche Filmsets an. Und noch schlimmer: Wenn im Film Lampen ihre Lichtkegel durch den nächtlichen Dunstschleier werfen oder Gilles in der spärlich beleuchteten Baracke unter seiner Decke liegt, dann sind das aufpolierte Hochglanz-Bilder, die sich einer Ästhetisierung hingeben. Regisseur Vadim Perelman spart das Sterben und Quälen im Lager nicht aus, aber es bleibt in der Darstellung zu nüchtern und beiläufig.
Perelman hat aus der zu Grunde liegenden Kurzgeschichte „Erfindung einer Sprache“ von Wolfgang Kohlhaase ein Figuren-Kaleidoskop erschaffen, das permanent um die eigentliche Katastrophe herumkreist und doch niemals deren wahre Abgründigkeit zu fassen vermag. Und doch muss man dem Historiendrama hoch anrechnen, zu welch eindringlichem Schluss diese Geschichte findet. Wie die Beziehung zwischen Täter und Opfer vor dem Hintergrund der täglichen Lagerbürokratie eskaliert, wie die Figuren in ihren Charakterzügen entlarvt werden, das hat zwar zuletzt Andrey Konchalovsky mit seinem KZ-Drama „Paradies“ weitaus gekonnter eingefangen. Trotzdem schlägt „Persischstunden“ gekonnt eine Brücke in die Gegenwart, legt einen finalen Finger in die niemals ganz verheilende Wunde.
Abschütteln lassen sich diese Ereignisse nicht mehr. Die Sprache, die hier erlernt wird, ist eine gelungene Metapher für diese Wunde. Doch es sind eigentlich zwei verschiedene Sprachen! Der eine lernt und spricht eine Fantasiesprache, so leer wie seine menschenverachtende Ideologie, der andere lernt die Sprache all jener, die dieser Ideologie zum Opfer fallen. Eine bewegende, starke Erkenntnis für einen zuvor so unentschlossen erzählten Film!
Fazit: „Persischstunden“ spannt einen gekonnten Erzählbogen vom Zwei-Personen-Stück zum universellen Drama. Unterwegs ist der Film jedoch so schwelgerisch in seinen banalen, teils an den Haaren herbeigezogenen Charaktermomenten und so ungeschickt in seiner Darstellung der Holocaust-Verbrechen, dass er dieser schwierigen und abgründigen Thematik dennoch oft nicht gerecht wird.
Wir haben „Persischstunden“ im Rahmen der Berlinale gesehen, wo er als Berlinale Special gezeigt wurde.