Kulinarischer Nervenkitzel
Von Janick NoltingWeg mit der Zigarette! Rauchen beeinträchtigt den Geschmack. Gleich zu Beginn muss sich die von „Das Damengambit“-Shooting-Star Anya Taylor-Joy gespielte Margot eine Standpauke von ihrem Partner anhören. Beide warten gerade auf die Fähre, die sie zu einem Dinner der ganz besonderen Art schippern soll. Was dort auf sie wartet, inszeniert der Serien-Spezialist Mark Mylod („Succession“, „Game Of Thrones“) in seinem ersten Kinofilm als abgründiges Vexierspiel. Unter der offensichtlichen Gesellschaftskritik von „The Menu“ lauern gleich mehrere doppelte Böden, die auf Konfrontationskurs mit unserem Sehverhalten gehen.
Auf der kleinen Insel Hawthorne findet sich eine Gruppe gutbetuchter Menschen ein, um das neue Menü von Slowik (Ralph Fiennes) zu kosten. „Nicht essen, sondern schmecken!“, gemahnt der Star-Koch seine Gäste, unter denen sich neben Margot und ihrem Freund Tyler (Nicholas Hoult) etwa noch eine einflussreiche Gastrokritikerin (Janet McTeer) und ein prominenter Schauspieler (John Leguizamo) befinden. Margot muss bald erkennen, dass sich hinter dem Dinner ein gewiefter Plan verbirgt. Die Speisekarte sieht nämlich nicht vor, dass irgendjemand das Restaurant lebendig wieder verlässt…
Küchenchef Slowik (Ralph Fiennes) hat sein Team voll in der Hand – und neigt auch sonst zu grenzwertig-diktatorischen Methoden.
Zunächst einmal ist „The Menu“ ebenso mitreißendes wie garstig-komisches Spannungskino. Eine Horror-Satire, die genüsslich Unbehagen verbreitet, um hinterher immer neue Haken zu schlagen. Man verfolgt diesen Film mit einem Gefühl der permanenten Unsicherheit. Wie weit wird er die Eskalation treiben? Ist am Ende doch alles nur ein ausgebuffter Trick? Das Drehbuch von Seth Reiss und Will Tracy besticht bis zum Schluss durch seine Unberechenbarkeit und Kaltschnäuzigkeit.
Ein Klatschen zerreißt die nervöse Atmosphäre. Auftritt Ralph Fiennes. Er spielt den Chefkoch mit schauriger Präsenz, mit einem Changieren zwischen durchtriebener Berechnung, kühlen Blicken und schierem Wahnsinn. Wenn er in die Hände klatscht, steht die Belegschaft stramm, zucken die Gäste erschrocken zusammen. Ein wiederholt eingesetzter Schockeffekt, der uns immer dann wachrüttelt, wenn wir uns gerade allzu sehr in diesem Spektakel eingerichtet haben.
Überhaupt sind Hingabe und Verführung die großen Themen von „The Menu“. Wie sehr ist man bereit, sich von dem Kammerspiel vereinnahmen zu lassen? Und vor allem: Wie weit folgt man dem finsteren Plan des Kochs? Das Charisma und die Strenge, die Ralph Fiennes verkörpert, sind so hypnotisierend, dass auch die Regiearbeit von Mark Mylod permanent hadert, ob sie dessen Ausstrahlung verfallen oder nicht doch eher vor dieser verstört zurückschrecken soll.
Wenn am Ende ein Kunstwerk wie dieses dabei herauskommt, rechtfertigt das wirklich die dafür eingesetzten Mittel?
Eine Tour durch die Unterkunft der Küchenbelegschaft gleicht dem Blick in eine Kaserne. Keine Privatsphäre, ein Raum der Angleichung und Ausbeutung. Alle ordnen sich dem Geniekult unter. Die ausgefeilten Nobel-Gerichte sind mit Obsession und Perfektion gekocht. Als köstlich stilisierte Essensfotografien erscheinen sie zu jedem Gang auf der Leinwand. Doch in die Bewunderung schiebt sich das Widerwort. „Selbst Ihre heißen Gerichte sind kalt“, sagt Margot irgendwann und wagt sich aus der Reserve.
„The Menu“ präsentiert sich in solchen Momenten als Versuchsanordnung, die die militärischen und faschistoiden Konstellationen und Machtverhältnisse nicht umsonst so überdeutlich vorführt. Die feine Gesellschaft erkennt irgendwann, dass sie in der Falle sitzt. Aber wie entschlossen ist sie zum Widerstand gegen den Tyrannen? „The Menu“ findet darauf eine unbequeme Antwort. Selbst als es den Gästen irgendwann brutal an den Kragen geht, glauben einige noch an harmloses Theater, Show und Spezialeffekte.
Genau hier wird „The Menu“ so gefährlich, so interessant und ambivalent, wenn man ihn als Film über Unterwerfung unter die Kunst betrachtet. Immer wieder wird vom Koch als Künstler gesprochen. Nicholas Hoults Figur schwärmt von dessen Brillanz und Radikalität, wie er das Dinner als Erzählung konzipiert. Tatsächlich führt „The Menu“ die Inszenierung eines totalitären Gesamtkunstwerkes vor. Eine Performance, die ihre Gäste mit Haut und Haar verschlingen will. Als Genuss, aber auch als Terror, der alle Sinne anspricht: Vom Riechen über das Hören und Schmecken bis hin zum Ansehen des in der offenen Küche gefertigten Gerichts – und dann das tastende Spüren körperlicher Gewalt quasi als Dreingabe.
Nur Margot (Anya Taylor-Joy) wagt es, gegen das Koch-Genie aufzubegehren – und einen Cheeseburger zu bestellen.
Man kann diesen Film leicht als plumpe Sozialkritik abstempeln, wenn Ralph Fiennes in Monologen die Dekadenz der Menschheit anprangert. Und tatsächlich: Er gleicht augenscheinlich einer reinen Bestrafungsfantasie an einfältigen Reichen. Aber auch das ist nur eine geschickte Masche. Man sollte sie nicht für bare Münze nehmen, zumal sich die Willkürlichkeit in der Auswahl der Opfer und der Unsinn der Gewaltspirale irgendwann nicht mehr verbergen lassen. „The Menu“ testet nicht nur seine Figuren, sondern auch das Publikum, wie es sich zu all diesen Grautönen und groß angelegten Inszenierungen verhält.
Spannend ist außerdem, dass es hier um jemanden geht, der mit seinem übergriffigen, selbstzerstörerischen Werk darauf rekurriert, immer nach dem Wohl seiner Kundschaft gestrebt zu haben, welche anschließend sowieso alles wieder vergisst und den Hals nie voll bekommt. Reiner Konsum soll dauernd neu gereizt und befriedigt werden. Ein Vergleich mit Phänomenen der Kulturindustrie liegt nahe, also auch mit dem populären Kino, das seine Rezipient*innen beglücken will. Nun folgt die Abrechnung, aber mit welchen Mitteln?
„The Menu“ reflektiert damit letztlich auch über sich selbst. Er erzählt mit Anya Taylor-Joys Figur vom Versuch, sich der rein immersiven Macht von Kunst zu entziehen. Und gerade dann eine Haltung zu entwickeln, wenn sie unter anbiedernd sinnlicher Fassade versucht, fragwürdige Thesen zu verbreiten. Sich mit Kunst auseinanderzusetzen, das bedeutet eben auch: in Distanz treten, Teile herausreißen, sie mit nach draußen nehmen, aus der Ferne beobachten, sich dem allzu naiven Mitspielen verweigern, ohne auf Genuss verzichten zu müssen. Dass „The Menu“ dafür ausgerechnet einen Cheeseburger als Bedeutungsträger nutzt, ist ebenso skurril wie clever gewählt. Der Überlebenskampf der Protagonistin entpuppt sich als zynisches, aber erstaunlich eigensinniges Plädoyer für das Ergründen der Illusion. Ein Aufruf, das eigene Werk gegen den Strich zu lesen.
Fazit: „The Menu“ ist vielleicht eine der größten und streitbarsten Überraschungen des Kinojahres. Ein wendungsreiches, mit fiesen Pointen gespicktes Kammerspiel, das sich zur Widerstandsparabel entwickelt und die Grenzen der eigenen künstlerischen Verführungskraft auslotet.