Ein unheimlich charmantes Selbstporträt
Von Christoph PetersenAgnès Varda ist eine sehr kluge, scharfsinnige, empathische, träumerische Frau, die zudem auch noch sehr spannende, unterhaltsame Geschichten erzählen kann. Natürlich im Kino, wo sie mit Filmen wie „Cléo – Mittwoch zwischen 5 und 7“ erst die Nouvelle Vague maßgeblich mitgeprägte, nur um dann 56 (!) Jahre später mit dem herausragenden Dokumentarfilm „Augenblicke: Gesichter einer Reise“ ihre erste Oscarnominierung abzustauben. Aber eben auch live auf der Bühne, wo Varda selbst im stolzen Alter von 90 Jahren noch immer regelmäßig von ihrer Arbeit erzählt. Einige dieser Auftritte hat sie nun selbst zusammengeschnitten und mit Filmausschnitten, alten Interviews und einigen extra gedrehten Sequenzen angereichert. Herausgekommen ist dabei „Varda By Agnès“ – ein herausragend montiertes, unheimlich charmantes Selbstporträt, in dem Varda ihre sieben Jahrzehnte umspannende Karriere nicht chronologisch abarbeitet, sondern munter assoziativ hin und her springt, was den anekdotischen Vortrag auch für Nicht-Kenner sehr kurzweilig erscheinen lässt.
Dabei hat Agnès Varda ja eigentlich schon im Jahr 2008 ein Kino-Selbstporträt abgeliefert, als sie kurz vor ihrem 80 Geburtstag den unwiderstehlichen Drang verspürte, vorher unbedingt noch „Die Strände von Agnès“ (4,5 Sterne von FILMSTARTS) drehen zu müssen. Deshalb geht es in „Varda By Agnès“ nun auch fast ausschließlich um ihre künstlerische Arbeit – als Spielfilmregisseurin, Fotografin, Installationskünstlerin und Dokumentarfilmerin. Dass der Aufbau mit der Mischung aus Bühnenszenen, einigen zusätzlich gedrehten Hinter-den-Kulissen-Szenen sowie Ausschnitten aus dem Werk an einen klassischen Konzertfilm erinnert, wie wir sie ja normalerweise nur von Musikstars kennen, erscheint dabei nur logisch: Schließlich ist auch um Agnès Varda gerade in den vergangenen paar Jahren noch einmal ein regelrechter Hype ausgebrochen – spätestens seit sie ihre zweifarbige Topffrisur trägt, ist die Neunzigjährige nicht länger nur eine Ikone des Kinos, der Kunst und des Feminismus, sondern auch der Fashion. Quasi die Ruth Bader Ginsburg des europäischen Autorenfilms.
Selbst wenn man ihren Ansatz des Direct Cinema, auch in ihre Spielfilme dokumentarische Elemente mit einfließen zu lassen, schon kennt, wird ihre Erzählung über den zufällig getroffenen und sofort in „Cléo – Mittwoch zwischen 5 und 7“ eingebauten Froschschlucker deshalb kein bisschen weniger amüsant. Außerdem kennen wir wohl niemandem, bei den das ständige Namedropping weniger aufgesetzt wirkt als bei Agnès Varda – sie kannte halt jeden und selbst Robert De Niro ist für sie schon Tage vor den Dreharbeiten immer um vier Uhr morgens aufgestanden, um nach dem Flug mit der Concorde auch wirklich fit zu sein und nicht unter Jetlag zu leiden. Nur ein Name ist auffällig abwesend, nämlich der ihres alten Kumpels und Weggefährten Jean-Luc Godard! Aber auf den ist Varda wahrscheinlich immer noch nicht so gut zu sprechen, nachdem er sie in „Augenblicke: Gesichter einer Reise“ erfolglos an seiner Haustür klingeln ließ, obwohl sie ihm sogar extra sein Lieblingsgebäck von seinem favorisierten Bäcker mitgebracht hatte.
Während über den Foto-Teil ihrer Karriere vergleichsweise fix hinweggegangen wird (eignet sich eben auch fürs Kino nicht so gut), handelt anschließend ein gutes Viertel des Films von ihren Werken als Installationskünstlerin, die oft auch sehr eng mit ihrer dokumentarischen Arbeit verknüpft sind. So ist etwa aus einer Dokumentation über Menschen, die weggeworfenes Obst und Gemüse sammeln, zugleich ein Videoinstallations-Triptychon über keimende, herzförmige Kartoffeln entstanden – und das Grab ihrer geliebten Katze gibt es jetzt auch im Museum, wo es vor allem die Kinder bestaunen, selbst wenn in den Kopien nicht extra eine Katze vergraben wurde. Speziell in diesem Abschnitt werden wohl selbst die größten Kinokenner noch ein paar neue Seiten an ihrem Idol entdecken. Wir sind jedenfalls schon jetzt sehr gespannt darauf, welche Art des Selbstporträts sich Agnès Varda dann wohl zu ihrem 100. Geburtstag einfallen lässt. Es wird bestimmt ganz großartig.
Fazit: Als Quasi-Konzertfilm erreicht „Varda By Agnès“ zwar längst nicht die durchgehende inszenatorische Brillanz von „Die Strände von Agnès“ oder „Augenblicke: Gesichter einer Reise“, aber es gibt wohl trotzdem kaum eine Band auf diesem Planeten, der wir lieber auf der Bühne zuhören würden als der aus ihrer Karriere erzählenden Agnès Varda.
Wir haben „Varda By Agnès“ im Rahmen der Berlinale 2019 gesehen, wo er außer Konkurrenz im offiziellen Wettbewerb gezeigt wurde.