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    Dear Evan Hansen
    Kritik der FILMSTARTS-Redaktion
    2,5
    durchschnittlich
    Dear Evan Hansen

    Auf der Bühne ein Megahit, auf der Leinwand eine zwiespältige Angelegenheit

    Von Jochen Werner

    Lieber Evan Hansen, das wird heute ein ganz fantastischer Tag – und ich verrate dir auch, warum. Denn heute musst du nichts weiter tun, als du selbst zu sein.

    Mit diesen Worten beginnen die Briefe, die Evan (Ben Platt) im der Musical-Verfilmung „Dear Evan Hansen“ als Hausaufgabe seines Psychotherapeuten täglich an sich selbst schreibt. Allerdings ohne wirklich an sie zu glauben, denn gut verläuft dann eigentlich kein Tag für den von Depressionen und Angststörungen geplagten Teenager. Freiheit verspricht er sich von einem Praktikum in einem Nationalpark in den Sommerferien, wo er sich beim Versuch, einen Baum hochzuklettern, den Arm bricht. Als er am ersten Schultag mit eingegipstem Arm auftaucht, möchte niemand auf seinem Verband unterschreiben – und als er endlich einmal ein paar Worte mit seinem heimlichen Schwarm Zoe (Kaitlyn Dever) wechseln könnte, bringt er vor Angst kaum eins über die Lippen, bis er schließlich sogar einfach davonrennt.

    Lieber Evan Hansen, es hat sich herausgestellt, dass dies doch kein ganz fantastischer Tag gewesen ist. Das wird auch keine ganz fantastische Woche oder ein ganz fantastisches Jahr werden. Warum auch?

    So lautet der ehrliche Brief, den Evan am Ende dieses Tages an sich selbst schreibt und der versehentlich in die Hände von Zoes drogensüchtigem Bruder Connor Murphy (Colton Ryan) fällt, der sich noch am selben Tag das Leben nimmt. Da er ansonsten keinen Abschiedsbrief hinterlässt und lediglich Evans Brief bei ihm gefunden wird, deutet Connors hinterbliebene Familie diesen als Beweis einer geheim gehaltenen Freundschaft des verschlossenen, aggressiven Jugendlichen zum Außenseiter Evan – und da dieser es nicht wagt, den Fehlschluss der trauernden Murphys aufzuklären, beginnt er, Erzählungen einer Freundschaft zu erfinden; einer Freundschaft, wie er sie selbst sich auch wünscht und über die er auch Zoe allmählich näherkommt.

    So entsteht ein immer weiter wucherndes Lügengebäude, das endgültig außer Kontrolle gerät, als ein Video von Evans Rede (oder besser Song, denn wir befinden uns schließlich in einem Musical) bei einer Gedenkveranstaltung viral geht und eine ganze Bewegung zur Aufklärung über psychische Krankheiten und Suizidprävention in Gang setzt. Evans Mitschülerin Alana (Amandla Stenberg) startet sogar eine riesige Crowdfunding-Aktion und Evan findet sich plötzlich völlig ungewollt als Galionsfigur dieser Bewegung wieder…

    Für Evan Hansen ist es schon ein großes Stück Freiheit, auf einen Baum klettern zu können...

    Ein Musical über psychische Krankheit und Suizid ist zwangsläufig eine Gratwanderung – und dennoch oder gerade deshalb hat „Dear Evan Hansen“ seit seiner Bühnenpremiere 2015 eine unglaubliche Erfolgsgeschichte bei Publikum und Kritik hingelegt und für seine 2017er Broadway-Inszenierung sogar sechs Tony-Awards (den Oscar der amerikanischen Theater- und Musicalszene) gewonnen. Der langerwarteten und im Zuge der Corona-Pandemie verzögerten Kinoadaption schlug nun allerdings zunächst einmal weit weniger Enthusiasmus entgegen: Erste Kritiken bemängelten etwa, dass der inzwischen 28-jährige Hauptdarsteller Ben Platt für die Titelrolle, mit der er über die Jahre allerlei Lobeshymnen und Schauspielpreise abgeräumt hat, inzwischen deutlich zu alt sei.

    Das mag auf den ersten Blick sogar der Fall sein, ist aber ein eher oberflächliches Argument, das weder über die Qualität des Films noch über Platts Spiel etwas Stichhaltiges aussagt – und das zudem eine uralte, völlig etablierte Casting-Praxis im Hollywoodkino in einem einzigen Handstreich wegwischt. Denn wer sich an ikonische Teenagerfilme des amerikanischen Kinos erinnert, hat höchstwahrscheinlich darin eher Mitt- bis Endzwanzigern beim Ausagieren von Highschool-Konflikten zugesehen. So war etwa Judd Nelson in „Breakfast Club“ schon 27 Ferris Buellers bester Freund Cameron Frye (Alan Ruck) gar schon 30 in John Hughes Meisterwerk „Ferris macht blau“. In „American Pie“ funktionierte es anderthalb Dekaden später dann auch beim anderen Geschlecht ähnlich mit der 24-jährigen Tara Reid und der 25-jährigen Alyson Hannigan. Allesamt ikonische Performances, die unser Bild vom Teenagersein, so wir sie in entsprechendem Alter gesehen haben, maßgeblich geprägt haben.

    Zu alt? Das ist hier gar nicht die Frage!

    Dass diese Casting-Praxis aber gerade heute problematisiert wird, passt natürlich gut in den etwa durch die umstrittenen neuen Casting-Leitlinien von Amazon abgebildeten Zeitgeist, der jeder Form von Cultural Appropriation äußerst kritisch gegenübersteht und von Schauspieler*innen zunehmend erwartet, auch hinter der Kamera das zu sein, was sie vor der Kamera verkörpern. Das ist – repräsentationspolitisch wie im Hinblick auf eine gerechtere Ressourcenverteilung – oftmals richtig und nachvollziehbar. Hier macht ein solcher Abgleich anhand eines rein äußerlichen Kriteriums aber wenig Sinn, denn Platts Spiel oder sein Erscheinungsbild zählen definitiv nicht zu den durchaus vorhandenen zentralen Problemen von „Dear Evan Hansen“.

    Diese werden eher in einer gewissen Unentschlossenheit bezüglich des anzuschlagenden Tonfalls deutlich. Über weite Strecken inszeniert Regisseur Stephen Chbosky, der sich bereits mit „Vielleicht lieber morgen“ als Experte für bittersüße Highschool-Filme empfahl, mit einer durchaus angemessenen und im Rahmen der Musicalform zugleich überraschenden Zurückhaltung. Gerade die Songs wirken, wie Protagonist Evan selbst, eher still, etwas zerbrechlich und zögerlich vorgetragen – darin unterscheiden sie sich etwa stark von den glamourösen Hymnen in „Everybody's Talking About Jamie“ oder den farbenfrohen urbanen Choreografien in „In The Heights“, den anderen beiden großen „Woke“-Musicals des Kinojahres 2021.

    Viele Diskussionen drehen sich um das Alter des Hauptdarstellers Ben Platt - und verfehlen damit den Kern des Films.

    Ein Song wurde jedoch exklusiv für die Kinoadaption von „Dear Evan Hansen“ hinzukomponiert (da ist so üblich, auch um die Oscarchancen in der Kategorie „Bester Song“ zu wahren, wo bereits vorher existierende Nummern nicht nominiert werden können): Der von Amandla Stenberg grandios vorgetragene Song „The Anonymous Ones“, eine Hymne der unsichtbaren Depressiven, ist das eingängigste Stück auf dem gesamten Soundtrack. Zugleich wird er über dem Abspann aber auch noch ein weiteres Mal von der Popsängerin SZA vorgetragen – und zwar dann in einer mit allerlei überflüssigen Effekten zugekleisterten, chartstauglichen R&B-Version.

    Der Spagat zwischen diesen beiden Fassungen desselben Songs ist letztlich auch der, in dem „Dear Evan Hansen“ gegen Ende ein Stück weit verlorengeht. Denn während Chbosky über weite Strecken des (überlangen) Films die Balance zwischen einer Sensibilität für seine ernsten Themen, einer Grundsympathie für die so beschädigten wie fehlbaren Protagonist*innen und dem Hang zur mitunter etwas seifenopernhaft anmutenden Melodramatisierung des Geschehens einigermaßen hält, kippt der Film dann schlussendlich doch noch in eine seltsam aufgeblasene Weinerlichkeit, die immer etwas zu deutlich macht, was das Publikum gerade fühlen soll.

    Mehr Brüchigkeit wagen, mehr Ambivalenz auch gerade gegenüber dem Titelhelden, der sich, von einer emotionalen Gemengelage aus Sehnsucht, Traurigkeit und der panischen Angst vor Ablehnung getrieben, immer tiefer in ein falsches Handeln verstrickt, wäre hier sicherlich die bessere, konsequentere Strategie gewesen…

    Fazit: Die Kinoadaption des erfolgreichen Broadwaymusicals ist eine zwiespältige Angelegenheit, die der Herausforderung, sensible Themen wie Depression und Suizid im Musicalformat zu verhandeln, über weite Strecken durchaus gerecht zu werden versucht. Im letzten Drittel kippt der Film dann leider ein wenig, was ihn einem angemessen melancholischen Schlussakkord zum Trotz dann doch zum schwächsten unter den derzeit offenbar im Trend liegenden „Woke“-Kinomusicals macht.

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