Der Horror des Sich-nicht-erinnern-Könnens
Von Tobias MayerEine Badewanne läuft über. Das Wasser bahnt sich seinen Weg durchs Haus, erst über den gefliesten Boden, dann unter der Tür hindurch und schließlich die Treppe hinunter. Natalie Erika James eröffnet „Relic – Dunkles Vermächtnis“, dessen deutscher Untertitel kaum zufällig an das Horror-Meisterwerk „Hereditary – Das Vermächtnis“ erinnert, mit einer zwar wenig subtilen, aber dennoch kraftvollen Metapher für das zentrale Thema ihres Spielfilmdebüts.
Die mittlerweile letzte verbliebene Bewohnerin des Hauses hat vergessen, den Hahn abzudrehen. Nun steht sie dort ganz und gar hilflos und nur notdürftig bekleidet, während sich das Wasser so unaufhaltsam ausbreitet wie die Verwirrung in ihrem Kopf. „Relic“ erzählt von der geistigen Degenerierung eines Menschen – nur eben mit den Konventionen und der Bildsprache des Horrorgenres. Das ist in seiner unbedingten Konsequenz bemerkenswert und auch sehr effektiv, selbst wenn die emotionale Komplexität von Demenz hinter dem einen oder anderen Schockeffekt zurückstecken muss.
Drei Generationen in einem Haus - romantische Familienidylle oder nicht doch eher der pure Horror?
Edna (Robyn Nevin), die seit dem Tod ihres Mannes allein in dem großen Haus lebt, ist verschwunden. Ihre Tochter Kay (Emily Mortimer) und Enkelin Sam (Bella Heathcote) sind extra aus Melbourne angereist und leiten nun die polizeiliche Suche in die Wege. Sie sind sicher, dass die demente Edna die Orientierung verloren hat und nun dringend Hilfe benötigt. Während die Frauen darauf warten, dass die Polizei etwas über Ednas Verbleib herausfindet, wohnen sie im Haus.
Doch ihr altes Zuhause ist kein besonders heimeliger Ort: Überall kleben Notizzettel, mit denen sich Edna an Dinge zu erinnern versuchte. Außerdem knarzt es merkwürdig in den Wänden und Kay leidet an beunruhigenden Träumen über eine alte Hütte mit einer verwesenden Leiche. Plötzlich taucht Edna wieder auf – ohne sagen zu können, wo sie die ganze Zeit über eigentlich war ...
Der Plot von „Relic“ ist für viele Menschen kein fernes Horrorszenario, sondern im Gegenteil knallharter Alltag: Die Demenz ist für Angehörige auch deshalb so belastend, weil die Symptome in der Regel immer nur schlimmer werden – und weil sich der Betroffene regelrecht aufzulösen scheint, auch wenn er körperlich noch gar nicht so schwer betroffen ist. Selbst der unternehmungslustigste Mensch kann sich mit erschreckendem Tempo zum Pflegefall entwickeln, wenn er Freunde, Ehepartner oder sogar die eigenen Kinder plötzlich nicht mehr erkennt. Das besonders Grausame daran: Die Persönlichkeit stirbt vor dem Körper.
Natalie Erika James inszeniert die Demenz und ihre Folgen in „Relic“ mit den klassischen Mitteln des Spukhaus-Horrors: Wenn Kay und Sam das merkwürdige Geräusche von sich gebende Haus der verschwundenen Edna betreten, tasten sie sich darin so vorsichtig vor, als wären sie in einem dämonenverseuchten Anwesen unterwegs. Mutter und Tochter haben eben auch eine sehr nachvollziehbare Furcht, die so gar nichts mit Geistern und Monstern zu tun hat: nämlich die Großmutter zu finden, wie sie hilflos am Boden liegt – oder noch schlimmer. Die klassischen Bilder des Gruselgenres passen perfekt zu dieser ebenso grauenerregenden wie realen Angst.
Zu Besuch bei der (lieben) Omi...
Im Kern ist „Relic“ damit – ähnlich wie etwa „Der Babadook“ oder „Hereditary – Das Vermächtnis“, der ja ebenfalls von der potenziellen Vererbbarkeit von Unglück und Horror handelte – eine tragische Familiengeschichte: Der schmerzhafteste Schrecken ist weltlicher Natur! Kay und Sam müssen damit umgehen, Eda langsam, aber sicher zu verlieren – und sie müssen sich mit der Frage auseinandersetzen, ob sie weiter Zuhause gepflegt oder nicht doch besser in einem Heim untergebracht werden sollte. „Relic“ ist dabei in seiner Darstellung des familiären Konflikts auch deshalb so stark, weil Edna eben längst nicht nur die liebe, tattrige Oma ist:
Ihren Wutanfall, als sie Enkelin Sam des Diebstahls eines Rings bezichtigt, obwohl sie ihrer Enkelin das Schmuckstück erst ein paar Szenen vorher geschenkt hat, mag man noch als Krankheitssymptom abtun. Aber dass Edna den Nachbarsjungen Jamie (Chris Bunton) abfällig als „Retard“ (auf Deutsch: „Spasti“) bezeichnet, hat auch etwas mit ihrem Charakter und nicht nur mit der Krankheit zu tun – genauso wie das angespannte Verhältnis zu ihrer Tochter Kay, das immer wieder subtil angedeutet wird.
Lange weiß man bei „Relic“ nicht genau, ob es zusätzlich zur Demenz nicht vielleicht doch auch eine dämonische Präsenz gibt. Im eskalierenden Schlussdrittel tritt das komplexe Familiengefüge zwischen den drei Frauen dabei allerdings zunehmend in den Hintergrund. Der (potenzielle) Spuk bleibt zwar eine konsequente Metapher für Demenz, eine Scheißkrankheit, deren Folgen über die unmittelbar Betroffenen hinausreicht und so unendlich hilflos macht. Aber darüber hinaus dominieren plötzlich die Schockeffekte, bis der Film den Generationen-Konflikt in einem ambivalenten Schlussbild auflöst, das auf ebenso berührende wie verstörende Weise versöhnlich ist, weil es zugleich auch schon die zukünftigen Schrecken vorausahnen lässt.
Fazit: Demenz kann einem eine Scheißangst machen – und das gilt definitiv auch für den Spuk-Horror „Relic – Dunkles Vermächtnis“!