Ein heilloses Durcheinander
Von Lars-Christian DanielsIn den oft skandinavisch angehauchten Folgen aus der nördlichsten aller „Tatort“-Städte wurde in den vergangenen Jahren auch hin und wieder grenzüberschreitend ermittelt: Im „Tatort: Tango für Borowski“ verschlug es den Kieler Hauptkommissar Klaus Borowski 2010 nach Finnland (Saunagang inklusive), im „Tatort: Borowski und der coole Hund“ ermittelte er 2011 in Schweden und im „Tatort: Borowski und der brennende Mann“ erhielt er 2013 Unterstützung von der kecken südschlesischen Kommissarin Einigsen (Sängerin und Schauspielerin Lisa Werlinder), die sich schon mal lasziv in einem Dänemark-Trikot auf seinem Bett räkelte und ihm bei den Ermittlungen im Grenzgebiet zu unserem Nachbarland unter die Arme griff.
Auch im „Tatort: Borowski und das Haus am Meer“ führt die Spur wieder gen Norden: Die Kieler Kommissare werden unter der Regie von Niki Stein („Rommel“) auf einen Fall angesetzt, dessen Spuren weit in die Vergangenheit reichen und zu einer alternativen Bildungseinrichtung in Dänemark führen. Das Ergebnis ist die schwächste Kieler „Tatort“-Folge seit Jahren: Die Geschichte wird unnötig umständlich erzählt und wirkt überladen, den Figuren fehlt die Tiefe und selbst die Ermittler scheinen mit ihrem dritten gemeinsamen Fall nicht so recht warm zu werden.
Zu Beginn kann sich Klaus Borowski nicht sicher sein, ob der Junge die Wahrheit sagt oder nur fantasiert.
In einem Wald läuft den Kieler Hauptkommissaren Klaus Borowski (Axel Milberg) und Mila Sahin (Almila Bagriacik) ein Junge vors Auto: Der achtjährige Simon (Anton Peltier) berichtet aufgeregt, sein Großvater läge tot im Wald, während er selbst von einem Hund angefallen und von einem Indianer beschützt worden sei. Die blühende Phantasie eines Jungen? Oder ist was dran an der Geschichte? Als Borowski und Sahin, die bei ihren Ermittlungen von Rechtsmedizinerin Kroll (Anja Antonowicz) unterstützt werden, den Kleinen bei seinen Eltern Johann (Martin Lindow) und Nadja Flemming (Tatiana Nekrasov) abliefern, bestätigt der Vater, dass Simons an Alzheimer erkrankter Großvater Heinrich Flemming (Reiner Schöne) verschwunden ist. Er wollte offenbar auf das Segelschiff von Inga Andersen (Jannie Faurschou) fliehen, mit der er lange Zeit in einer alternativen Kommune gelebt hat. Am nächsten Tag werden Heinrichs Leiche und ein Hundekadaver am Strand gefunden…
Genau eine Woche vor der TV-Premiere der 1112. „Tatort“-Folge wurde das deutsche TV-Publikum mal wieder an die Grenzen seiner Belastbarkeit gebracht: Der für seine sperrigen Inszenierungen und komplexen Geschichten berühmt-berüchtigte Filmemacher Dominik Graf brach in seinem Münchner „Polizeiruf 110: Die Lüge, die wir Zukunft nennen“ mit zahlreichen Sonntagskrimikonventionen und erntete dafür harsche Kritik von weiten Teilen des Publikums. Der Geduldsfaden vieler Zuschauer, die Woche für Woche auf einen klassischen Whodunit hoffen und auf dem gewohnten Sendeplatz in den letzten Jahren viele (mal mehr, mal weniger geglückte) Krimi-Experimente über sich ergehen lassen mussten, reißt auch durch die Konkurrenz von Netflix & Co. mittlerweile deutlich schneller – und das könnte auch dem „Tatort: Borowski und das Haus am Meer“ früh zum Verhängnis werden.
Denn schon in den unübersichtlichen Anfangsminuten lässt Regisseur und Drehbuchautor Niki Stein, der schon tolle Krimis wie den aufwühlenden Frankfurter „Tatort: Das Böse“ oder den futuristischen Stuttgarter „Tatort: HAL“ arrangiert hat, sein Publikum ein Stück weit allein: Der Film greift einleitend mit einer Eröffnungssequenz vor, die eigentlich drei Tage später spielt und auf der Zielgeraden des Krimis wieder aufgegriffen wird. Der Mehrwert dieser erzählerischen Fingerübung erschließt sich nicht, zumal sie in der missglückten Einleitung untergeht: Das Geschehen springt anfangs pausenlos zwischen verschiedenen Schauplätzen, noch unbekannten Figuren und unterschiedlichen Zeitebenen – so mancher Zuschauer dürfte daher seinen Finger schon früh Richtung Fernbedienung bewegen.
Mit dem Auftauchen des kleinen Jungen findet der „Tatort“ dann aber in die Spur und arbeitet die üblichen Standardsituationen der Krimireihe ab: Auffinden der Leiche am Strand, Erkenntnisse der Gerichtsmedizin und Befragungen im Umkreis des Mordopfers, bei denen sich erste Anhaltspunkte ergeben. Besonders reizvoll erscheint das Duell zwischen dem bemerkenswert unsympathischen Pfarrer Flemming und Klaus Borowski, der in bester „Columbo“-Manier mehr zu wissen scheint, als der Tatverdächtige ahnt – und dem Zuschauer dies mit entsprechenden Blicken auch zwischen den Zeilen zu verstehen gibt (Axel Milberg beherrscht dieses Mienenspiel wie kein zweiter „Tatort“-Kommissar). Ehe es richtig interessant wird, brechen Borowski und Sahin aber plötzlich nach Dänemark auf und verfolgen eine andere Fährte – prompt stürzt der Film in ein Spannungsloch, aus dem er sich bis zum Showdown nicht mehr zu befreien vermag.
Im neuen Fall gibt es für Borowski nicht nur ein Haus, sondern auch ein Kreuz am Meer.
Denn es hat fast etwas von einem missglückten Ostsee-Urlaub, wenn Borowski bei strahlendem Sonnenschein im Auto wegdöst und sich Sahin am Fährhafen über die Mayonnaise auf ihrem Sandwich beklagt. Fortan gehen die beiden getrennte Wege, so dass sich durch das – für „Tatort“-Verhältnisse ohnehin ungewohnt harmonische – Verhältnis der Ermittler keine Reibungspunkte mehr ergeben. Von früheren Glanzzeiten, in denen Borowski mit seiner toughen Ex-Kollegin Sarah Brandt (Sibel Kekilli) aneinandergeriet oder bei der verschlossenen Polizeipsychologin Frieda Jung (Maren Eggert) auf Tuchfühlung ging, ist der Kieler „Tatort“ hier im Hinblick auf seine Hauptfiguren meilenweit entfernt. Auch für Borowskis Chef Roland Schladitz (Thomas Kügel) scheint es beim dritten Fall von Borowski und Sahin im Drehbuch keine sinnvolle Verwendung zu geben.
Das wäre kein Beinbruch, wenn wenigstens der Mordfall überzeugend ausfiele – doch der wirkt spätestens bei einem dünnen Brückenschlag in die NS-Zeit überfrachtet, weil die Filmemacher dem ersten (Johann/Simon) und zweiten (Heinrich/Johann) noch ein drittes Vater-Sohn-Drama (Reinhard/Heinrich) hinzufügen und sich bei den Sprüngen zwischen den Zeiten und Schauplätzen heillos verheddern. Zahlreiche Themen mit Potenzial werden angerissen, aber kaum weiterverarbeitet: die Alzheimer-Erkrankung eines Rentners, die Gefühlswelt eines schüchternen Kindes, das seltsame Verhalten eines ungeliebten Pfarrers, der seine Ehefrau bedrängt. Auch der Handlungsstrang um eine anti-autoritäre Bildungseinrichtung in Dänemark wirkt überkonstruiert. Und dann ist da noch der seltsame, irgendwo zwischen Realität und Fiktion verortete Indianer Erik Larsen (Thomas Chaanhing), der Mystery-Atmosphäre in diesen Krimi bringen soll – bei seinen theatralischen Kurzauftritten an Waldrändern und in Kirchen aber eher unfreiwillig komisch wirkt.
Fazit: „Borowski und das Haus am Meer“ ist der schwächste Kieler „Tatort“ seit Jahren.