Kein typischer Zombie-Film
Von Michael MeynsEin Film über Teenager, den Umgang mit Geschichte, das Verhältnis zu fremden Kulturen, Völkern und Riten, über weibliches Begehren, Sklaverei und Kolonialismus. „Zombi Child“ ist vieles, am wenigsten jedoch ein typischer Zombie-Film, selbst wenn Regisseur Bertrand Bonello die Ursprünge des Mythos absolut ernstnimmt. Nach seinen teuren, aufwändigen Produktionen „Saint Laurent“ und „Nocturama“ entstand „Zombi Child“ in nur wenigen Monaten, mit geradezu winzigem Budget, fast aus der Hüfte geschossen. Das merkt man dem Ergebnis einerseits an, nicht alles passt zusammen, manches ist unterentwickelt. Doch gerade das unstrukturierte, assoziative macht am Ende auch die besondere Qualität dieses etwas anderen Voodoo-Films aus.
Haiti, 1962: Nachdem ihn ein Pülverchen in die Schuhe gestreut wurde, stirbt Clairvius Narcisse (Mackenson Bijou). Kurz nach seiner Beerdigung erwacht er jedoch wieder als Zombi und muss fortan als Sklave auf den Zuckerrohrplantagen der karibischen Insel schuften, bis er eines Tages Fleisch isst und der Fluch damit gebrochen ist. (Das ist übrigens nicht nur eine Legende, Narcisse ist vielmehr eine verbürgte historische Figur mit eigener Wikipedia-Seite.) Im heutigen Paris fragt sich unterdessen eine Studentenverbindung einem streng katholischen Mädcheninternat, ob sie die aus Haiti stammende Melissa (Wislanda Louimat) aufnehmen soll. Besonders Fanny (Louise Labèque) setzt sich für ihre Aufnahme ein und ist fasziniert von den merkwürdigen Geschichten, die Melissa aus ihrer Heimat erzählt. Als sich ihre große Liebe Pablo per Textnachricht von ihr trennt, glaubt Fanny, ihn mit den Methoden des Voodoo auf ewig an sich binden zu können…
Fanny ist von ihrer neuen Freundin Melissa fasziniert – auch wegen deren Voodoo-Verbindungen.
Für lange Zeit lässt Bertrand Bonello die zwei Erzählebenen nebeneinanderstehen, schneidet immer wieder zwischen dem Haiti der 60er und dem zeitgenössischen Frankreich hin und her, bis er sie schließlich in einem furiosen Finale zusammenführt. Doch auch diese Voodoo-Zeremonie, die mindestens zwei Orte, vielleicht sogar zwei Zeiten mitarbeiten verbindet, liefert keine klaren Antworten – was auch gar nicht möglich und nötig ist, denn Bonello stellt keine klaren Fragen, sondern reißt eine Vielzahl von Themen an und öffnet so vielfältige Assoziationsräume.
Zum Beispiel gleich in der ersten Szene in Paris, wenn er einen Dozenten ausführlich über Texte des haitianischen Intellektuellen und Aktivisten René Depestre, der die herkömmliche, linear erzählende Geschichtsschreibung in Frage stellte, referieren lässt. Denn Geschichte folgt in den meisten Fällen schließlich keiner Narration, sondern passiert sprunghaft und bleibt oft unerklärlich. Vor allem hängt Geschichtsschreibung aber von der Perspektive ab: Das Selbstverständnis der französischen Nation etwa, die sich als Vorreiter von Freiheit und Brüderlichkeit sieht, deren Name so untrennbar mit dem Begriff der Revolution verbunden ist, hält der Realität nicht stand. Schließlich war auch Haiti eine französische Kolonie, auf der die Sklaverei eine zentrale Rolle spielte und die auch nach ihrer Unabhängigkeit oft noch vom Mutterland bevormundet wurde.
Hier kommt dann auch der französische Schauplatz des Films ins Spiel: Das Mädchen-Internat Maison d'éducation de la Légion d'honneur, eine noch von Napoleon gegründete Institution. Hier wird nur aufgenommen, wer Nachfahre einer Person ist, die mit dem Orden der Ehrenlegion, dem Verdienstkreuz oder ähnlichen militärischen Auszeichnungen bedacht worden ist. Elitärer geht es selbst im elitären französischen Schulsystem, das ohnehin für seine Undurchlässigkeit bekannt ist, nicht mehr. Und dennoch sind auch die Schülerinnen dieser so elitären Schule zugleich ganz typische Vertreter ihrer Zeit: Ständig mit dem Smartphone beschäftigt, von Oberflächlichkeit geprägt, voller Vorurteile über Fremde, über andere Kulturen. Wie die Jugendlichen Melissa auch wegen ihrer Exotik in ihre Runde aufnehmen, darf man dann auch getrost als Spiegelung der frühen Anthropologie verstehen, die weniger auf das wirkliche Verständnis fremder Kulturen aus war, als vielmehr auf eine voyeuristische Befriedigung der Neugier am Exotischen.
Jede Studentenverbindung braucht ein Aufnahmeritual!
Die Tatsache, dass nun ausgerechnet ein Franzose einen Film dreht, der sich ganz zentral auch mit einer oft auch missverstandenen und missrepräsentierten Tradition wie dem Voodoo und den Legenden der Zombis beschäftigt, könnte man Bonello als kulturelle Aneignung auslegen. Aber der Regisseur ist klug genug, um diesen Vorwurf direkt schon selbst mitzudenken. Und so liefert „Zombi Child“ auch keinen bloßen Blick von außen auf Haiti und seine Traditionen, sondern deutet vielmehr auf vielschichtige Weise an, wie sich Klischees und Realität ja traditionell gerne vermischen. Und dann kommt eben auch ein französisches Mädchen auf die Idee, dass ihr ausgerechnet Voodoo bei ihrem Liebeskummer helfen könnte.
Fazit: Trotz des Titels sollte man bei Bertrand Bonellos „Zombi Child“ keinen Genrefilm erwarten. Stattdessen erwartet einen eine assoziationsreiche Beschäftigung mit Fragen, die vom Kolonialismus über Teenager und die erste Liebe bis hin zum Voodoo reicht.
Wir haben „Zombi Child“ beim Filmfestival in Cannes gesehen, wo er in der Sektion Quinzaine des Réalisateurs gezeigt wurde.
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