Dieses Mädchen hat es in sich!
Von Janick NoltingWas wäre das Kino nur ohne die Apokalypse? Umweltzerstörung, Seuchen, Kriege oder am besten gleich alles auf einmal: Im dystopischen Film wurden bereits viele Schreckensvisionen durchgespielt und auch das Übernatürliche oder zumindest Übermenschliche spielt dabei nicht selten eine Rolle. Künstliche Intelligenzen, Menschen mit Superkräften oder Angriffe aus dem All bieten immer wieder Stoff für große Action und sind aus dem Mainstreamkino spätestens seit den 1950ern kaum mehr wegzudenken. Trotzdem ging der Trend zuletzt immer mehr dahin, dass sich Filmschaffende in ihren Dystopien auf eher minimalistische Mittel und vielleicht sogar nur einen einzelnen abgegrenzten Schauplatz beschränken. „10 Cloverfield Lane“ war beispielsweise so ein Film, in dem die Protagonistin in einem Bunker gefangen gehalten wurde, ohne zu wissen, welches Unheil da oben an der Erdoberfläche über die Menschheit gekommen ist. Ein ähnliches Szenario entwerfen nun auch die Regisseure Zach Lipovsky („Dead Rising: Watchtower“) und Adam B. Stein („Kim Possible“) in ihrem Dystopie-Kammerspiel „Freaks“. Was als spannender Thriller beginnt, entwickelt sich jedoch irgendwann hin zu abstrusem Sci-Fi-Trash, sobald die Haustür erst einmal geöffnet wurde.
Chloe (Lexy Kolker) durfte noch nie vor die Tür. Ihr Vater (Emile Hirsch) hält die Siebenjährige in einem verbarrikadierten Haus gefangen. Kontakt zu Fremden ist ihr untersagt, sogar eine falsche Identität hat er seiner Tochter gegeben. Irgendetwas Schlimmes scheint da draußen vor sich zu gehen, die Gesellschaft hat sich verändert. Wovor ihr Vater solche Angst hat und warum regelmäßig seine Augen bluten, versteht Chloe nicht. Auch mit ihr selbst scheint irgendetwas nicht zu stimmen, doch ihr Vater schweigt eisern. Eines Tages taucht der Eisverkäufer Mr. Snowcone (Bruce Dern) mit seinem Wagen vor dem Haus auf. Das Mädchen ergreift kurzerhand die Flucht und lässt sich von dem zwielichtigen alten Mann mitnehmen…
Lexy Kolker und Emile Hirsch verkörpern ein faszinierend-ambivalentes Vater-Tochter-Gespann!
Wer im Vorfeld jemandem „Freaks“ erklären oder schmackhaft machen möchte, steht erst mal vor einem ziemlichen Dilemma. Denn wenn man erklärt, wovon der Film eigentlich die meiste Zeit handelt, dann raubt man ihm damit einen nicht gerade kleinen Teil seiner Spannung. Auf der anderen Seite ist es schwierig, diesen Science-Fiction-Thriller zu besprechen, ohne die inhaltliche Ausrichtung vorwegzunehmen, die auch die Poster und Trailer zum Film nur sehr spärlich zu verschleiern versuchen. Wer sich also ganz unvoreingenommen auf „Freaks“ einlassen will, sollte vielleicht erst nach dem Film zu dieser Kritik zurückkehren und vor allem einen großen Bogen um den Trailer machen. Denn zumindest in der ersten Stunde gelingt dem Regie-Duo ein wunderbar unvorhersehbares Rätselspiel.
Es ist zunächst einmal erstaunlich, wie stark das alles gespielt ist! Nachdem er zuletzt in Quentin Tarantinos „Once Upon A Time… In Hollywood“ nur eine verhältnismäßig unauffällige Nebenrolle spielen durfte, glänzt Hirsch hier als paranoider alleinerziehender Vater. Direkt zu Beginn sitzt er seiner Tochter gegenüber, während er sie an die Verhaltensregeln erinnert. Dabei schwankt er großartig gespielt zwischen fürsorglichem Vater und furchteinflößendem Psychopath, sodass man schnell nicht mehr weiß, ob er nun wirklich nur das Beste für sein Kind will oder schlichtweg den Verstand verloren hat. Aber auch die kleine Lexy Kolker meistert die schwierige Hauptrolle ordentlich, vor allem wenn man bedenkt, dass sich die Kamera meist ganz nah an sie heranheftet und so versucht, ihre kindliche Weltsicht auf den beengten Schauplatz zu vermitteln. Der Auftakt von „Freaks“ könnte auch als verquere Antwort auf das oscarprämierte Entführungs-Drama „Raum“ mit Brie Larson durchgehen.
Schließlich wagt sich Chloe dann doch noch nach draußen.
Das Publikum erlebt den ganzen Film aus Chloes Perspektive und muss mit ihr gemeinsam rätseln, was da vor der Haustür wohl vor sich geht. Besonders konsequent ist dabei, wie „Freaks“ seine junge, niedliche Hauptfigur nicht nur nutzt, um sich die Sympathien des Publikums zu sichern, denn Chloe darf auch immer wieder einfach mal ein bockiges Kind sein! Die Zeichnung der Vater-Tochter-Beziehung muss sich zumindest in der ersten Filmhälfte jedenfalls vor ähnlichen Konstellationen wie in „The Road“ oder jüngst Casey Afflecks „Light Of My Life“ nicht verstecken. Komplettiert wird das zentrale Trio schließlich von Hollywood-Legende Bruce Dern („Nebraska“), der sowieso über alle Zweifel erhaben ist. Auch er spielt durchweg facettenreich und wandelt sich äußerst unterhaltsam vom zwielichtigen Entführer zum Sympathieträger, der auch ordentlich gegen sein Umfeld austeilen kann. Am Cast liegt es also schon mal nicht, dass dieses atmosphärische Kammerspiel irgendwann so stark nachlässt.
Dabei fängt alles so spannend an! Zach Lipovsky und Adam B. Stein lassen einen gekonnt im Dunkeln tappen, wer in diesem Szenario der oder die Wahnsinnige ist, stellen zudem immer wieder in Frage, ob sich die Außenwelt wirklich verändert hat. Wenn die freundliche Nachbarin mit ihrer Tochter an die Tür klopft, dann lässt sich jedenfalls nichts Unheimliches feststellen – von etwas Apokalyptischem mal ganz zu schweigen. Die Regisseure nehmen sich alle Einzelteile – die blutenden Augen, die Beteuerungen des Vaters, die „Geisterfrau“ in Chloes Schrank – und setzen sie wie ein Puzzle zusammen, bis der erste Akt des Films schließlich in einem Mindfuck im besten Sinne gipfelt. Achtung: Ab hier Spoiler! Nach etwa 50 Minuten wird Licht ins Dunkel gebracht, was mit dem Vater-Tochter-Gespann nicht stimmt, doch damit ist noch nicht einmal ganz die Hälfte geschafft. Wenn die kleine Chloe endlich über sich hinauswächst und ihre wahre, äußerst gefährliche Identität erkennt, dann vollzieht der ganze Film einen Genrewechsel, der vor allem eines ist: ziemlich absurd!
Das Regie-Duo hinter der Kamera verlangt seinem Publikum etwas zu viel Akzeptanz für das Gezeigte ab, wenn einige Figuren in „Freaks“ plötzlich ihre Superkräfte offenbaren und der Film zu seinem eigentlichen Thema vordringt. Da werden in kürzester Zeit ganz neue Charakterzüge offenbart und immer neue Regeln für diese dystopische Welt eingeführt, ohne dass man jemals das Gefühl hat, der Film würde sich selbst an diese Regeln halten oder einer klaren Linie folgen. Von der eher ruhigen, auf Stimmung bedachten Erzählweise der ersten Hälfte wird sich komplett verabschiedet, stattdessen wird geradezu zwanghaft aufs Gaspedal getreten. Logisch erscheint da schon lange nichts mehr!
Die Parallelen dieses dystopischen Szenarios zu der „X-Men“-Reihe lassen sich nicht von der Hand weisen. Nur eben mit dem Unterschied, dass es in „Freaks“ weitaus düsterer und zum Teil ganz schön blutig ans Eingemachte geht. Das lässt viele Hintergründe, wie diese neue Gesellschaftsordnung entstanden ist, im Dunkeln. Dabei hätte der Stoff tatsächlich Potential für eine erfrischend andersartige Superheldengeschichte gehabt. Leider gehen all die guten Ansätze in wirren Ideen und mies getricksten Actionszenen unter, die eher für unfreiwillige Lacher sorgen. Da reicht das Budget offensichtlich nicht aus für das, was man eigentlich erzählen möchte. Wer ein Herz für Trashfilme mitbringt, kann wahrscheinlich noch mit der Absurdität der Actionszenen seinen Spaß haben, aus einer anderen Perspektive lässt sich das Finale allerdings kaum noch genießen. Schade um die rührende Dynamik zwischen Emile Hirsch und seiner Film-Tochter, die auch in der zweiten Hälfte zumindest immer mal wieder kurz durchschimmert.
Fazit: „Freaks“ überzeugt in der ersten Hälfte als originelles, top besetztes Sci-Fi-Rätsel mit dem Zeug zum Geheimtipp. Im weiteren Verlauf schlagen die Regisseure in dem Genre-Hybriden mit ihren abgefahrenen Ideen aber so stark über die Stränge, dass die anfängliche Spannung zunehmend einem eher albernen Effekt-Gewitter zum Opfer fällt.
Wir haben „Freaks“ auf dem Fantasy Filmfest 2019 gesehen.