Stylisch statt spannend
Von Karin JirsakDie von den Gebrüdern Grimm aufgezeichneten Volksmärchen bieten sich als Grundlage für Horrorfilme ja geradezu an. Schließlich sind viele von ihnen erstaunlich düster und grausam, da muss man nicht mal direkt zum Märchen vom Frauenmörder „Blaubart“ springen. Statt eine der weniger bekannten Geschichten hat sich Regisseur Osgood Perkins („Die Tochter des Teufels“) mit „Hänsel & Gretel“ nun direkt Grimms wohl berühmteste Mär um zwei Geschwister, die sich gegen eine Kannibalin im Lebkuchenhaus zur Wehr setzen, für eine weitere Verfilmung herausgepickt. Der vielsagend verdrehte Titel „Gretel & Hänsel“ verspricht dabei immerhin, dass wir es hier offenbar mit einer neuen Lesart der bekannten Geschichte zu tun bekommen. Wirklich spannend ist die aber leider nicht - weder thematisch noch in Sachen Gruselfaktor.
Teenagerin Gretel (Sophia Lillis) und ihr kleiner Bruder Hänsel (Samuel Leakey) werden von ihrer Mutter weggeschickt – Gretel soll eine Anstellung finden. Hungernd irren die Geschwister durch den Wald, bis sie auf ein seltsames Haus stoßen, aus dem verführerischer Essensgeruch lockt. Holda (Alice Krige), die ältere Dame, die in diesem Häuschen wohnt, nimmt die beiden auf und lässt sie an ihrer opulent gedeckten Tafel dinieren. Doch woher, fragt Gretel sich bald, stammen all die leckeren Köstlichkeiten? Auch wird das Mädchen von Alpträumen geplagt und ahnt so schnell, dass in dem Haus etwas Schreckliches geschehen sein muss. Schwarze Magie ist offenbar auch am Werk. Gretel kommt einem grausigen Geheimnis auf die Spur…
Im Gegensatz zu ihrem gefräßigen Bruder hat Gretel schnell den Durchblick.
Es war einmal ein wunderschönes, kleines Mädchen. Das wurde sehr krank und sein Vater brachte es zu einer Hexe, die es heilen sollte. Das Kind wurde gesund, doch die Hexe zeichnete es mit einer todbringenden Gabe... Mit dieser kleinen Geschichtsstunde beginnt „Gretel und Hänsel“ – und dieser Mär wird im Verlauf des Films noch eine gewichtige Bedeutung zuteil, wenn wir auch lange rätseln müssen, in welcher Verbindung sie zur eigentlichen Story steht. Es sei verraten, dass dies keine gute erzählerische Entscheidung war, denn am Ende der so aufgebauten Erwartungshaltung lauert eine bemerkenswert verunglückte Auflösung.
Diese aufgepfropfte Mär vom gezeichneten Mädchen ergibt zwar wenig Sinn, hat aber eine Moral: Es gibt keine Geschenke in der Welt, denn alles hat seinen Preis. Diese Erkenntnis hat auch Gretel tief verinnerlicht, wie wir zu Beginn erfahren. Somit ist sie (im Gegensatz zum hungrigen Hänsel) auch sofort misstrauisch, als Hexe Holda sie und ihren Bruder mit der ersten üppigen Mahlzeit versorgt – zumal schon das Äußere der Gastgeberin (z. B. sind die Finger schwarz – klar, wegen der Schwarzen Magie!) keinen sonderlich vertrauenswürdigen Eindruck macht.
Auch wird Gretel bereits in der ersten Nacht von einer alptraumhaften Vision heimgesucht, die schon fast das ganze widerliche Geheimnis Holdas verrät. Blöd für den Zuschauer, der sich von diesem Moment an hauptsächlich langweilt. Und auch ziemlich dumm von der eigentlich klugen Gretel, dennoch im Hexenhaus zu bleiben, obwohl sie niemand dazu zwingt. Zumal sie schon vor der Begegnung mit der Vettel über eine Art sechsten Sinn verfügt und „weiß, dass Dinge da sind, auch ohne sie gesehen zu haben“. Hätten sie und Hänsel die Hexe da nicht einfach bei erster Gelegenheit bestehlen und sich vom Acker machen können?
Nicht nur diese und andere Unstimmigkeiten machen die nicht gut verrührte Horror-Märchen-Kunstfilm-Mixtur zu einem mäßigen Vergnügen. Insbesondere die Auflösung des restlichen Hexengeheimnisses ist eine ziemliche Enttäuschung – auch weil dieser vermeintliche Höhepunkt am Ende eines durch die wabernde Erzählweise kaum erkennbaren Spannungsbogens steht. Zudem wirkt die Inszenierung in manchen Szenen ungewollt trashig. Das steht jedoch in einem Widerspruch mit dem deutlich durchscheinenden Anspruch, nicht nur Unterhaltung, sondern auch Kunst zu schaffen. Das wird unter anderem an manchen sehr künstlich und geometrisch arrangierten Einstellungen deutlich, die – ebenso wie die dunkel-synthetisch dröhnende Musik – mitunter sogar an die Filme von Stanley Kubrick gemahnt.
Hänsel nervt: Da wäre man jetzt nicht soooo traurig, wenn er im Ofen landet.
Doch Perkins findet für das, was er ausdrücken will, weder eine stimmige noch eine eigenständige Bildsprache: In Bäume geritzte Pentagramme, dunkel gewandete Gestalten, ein Dämonenkind (jenes Mädchen aus der ersten Szene), das durch bloßes Starren Mensch und Tier ins Grab bringt – hier gibt es so gut wie nichts, das man nicht anderswo schon mal und vor allem besser gesehen hat. Und gruselig ist das Ganze – bis auf eine an das Märchen „Blaubart“ erinnernde Vision und die dank der Maskenabteilung tatsächlich etwas furchterregende Alice Krige („Silent Hill“) - ebenfalls nicht. Auch gibt es unter den Protagonisten keine wirklichen Sympathieträger: Gretels Gefühlszustand, gerade auch ihrem Bruder gegenüber, ist ein schwer nachzuvollziehender Wirrwarr – und die Figur wirft auch zu viele Fragen auf, als das sie bis zum Ende hin wirklich Form annehmen würde
Diese Unentschlossenheit überträgt sich auch auf Sophia Lillis („ES Kapitel 2“), die in den meisten Szenen etwas indifferent und verloren wirkt. Die dem Titel nach zu erwartende „neue“ weibliche Perspektive wirkt entsprechend verwischt – und für eine Heldin auf Emanzipationskurs ist das, was Gretel tut und sagt, leider ziemlich wenig. Eine Entwicklung der Figur ist bis zum Ende kaum festzustellen. Hänsel dagegen macht eigentlich nichts anderes als zu essen, seine Schwester mit Fragen oder Gequengel zu nerven und mit der Axt auf jedwedes Gehölz einzuhauen, sodass auf Zuschauerseite schon recht früh der Wunsch aufkommen könnte, der Junge möge in dieser neuen Version vielleicht doch im Ofen der Hexe landen. Schade auch, dass diese Axt, obwohl recht oft im Bild, im ziemlich lahmen Kampf gegen das Böse nicht als Waffe zum Einsatz kommt! Da hätte es auch ruhig ein wenig brachialer zugehen dürfen.
Fazit: Laue Schauermär, die irgendwo zwischen Horror und Kunstfilm mit Emanzipationsthema mäandert und dabei kaum mal eine eigenständige Form annimmt.