Netflix-Horror im Porno-Milieu
Von Markus FiedlerDas Motiv des Doppelgängers, der einem Menschen die unverwechselbar geglaubte Identität stiehlt, wird in allen narrativen Formen gerne verwendet: Bereits im früheren 19. Jahrhundert tauchte es in der Literatur auf (etwa in E.T.A. Hoffmans „Die Elixiere des Teufels“) und auch in der Stummfilmära wurde es in dem Gruselfilm „Der Student von Prag“ meisterhaft umgesetzt. Darüber hinaus wird die Idee auch bis heute immer wieder in Filmen aufgegriffen, zuletzt etwa von „Blade Runner 2049“-Regisseur Denis Villeneuve in seinem rätselhaften Thriller „Enemy“ von 2013, in dem Jake Gyllenhaal eine krankhafte Obsession für seinen ihm fremden Doppelgänger entwickelt. Nun legt Regisseur Daniel Goldhaber in seiner Netflix-Original-Produktion „Cam“ nach: In seinem Psychothriller findet sich die als Camgirl arbeitende Protagonistin Lola plötzlich in einem Albtraum wieder, als sie durch eine ihr optisch exakt gleichende andere Frau ersetzt wird und darüber hinaus auch sonst jede Kontrolle über ihr Leben zu verlieren droht. Leider gelingt es Goldhaber dabei aber nur selten, den zweifelsohne in diesem Verdrängungsszenario steckenden Horror stimmig auf die Schirme der Streaming-Abonnenten zu bringen.
Lola (Madeline Brewer) heißt eigentlich Alice und arbeitet als Camgirl. Wenn sie über eine Webcam mit den Usern verbunden ist, erfüllt sie deren meist sexuellen Wünsche und verdient so gutes Geld. Ihre Familie weiß von ihrem Job nichts. Eines Abends muss Alice allerdings feststellen, dass ihr Kanal auf Sendung ist, obwohl sie selbst gerade gar nicht vor der Kamera steht. Und damit nicht genug: Die Frau, die dort an ihrer Stelle mit ihrem Account ihre Dienste anbietet, sieht auch noch genauso aus wie sie selbst. Alice selbst kann sich hingegen nicht mehr einloggen und muss dem Treiben deshalb ohnmächtig zusehen. Da zeitgleich auch noch die Bewohner der Kleinstadt, in der sie lebt, von ihrem Beruf erfahren, sieht sich Alice gleich von mehreren Seiten bedrängt. Dennoch versucht sie, sich ihr gestohlenes Leben zurückzuholen. Aber das ist sehr viel leichter gesagt als getan…
Es ist eigentlich eine sehr gute Idee von Drehbuchautorin Isa Mazzei, sich für ihre Doppelgänger-Story einen derart öffentlichen Beruf wie den eines Camgirls auszusuchen – schließlich wirkt das alles noch viel abgründiger und absurder, wenn der Identitätsdiebstahl nicht im Geheimen, sondern in aller Öffentlichkeit vonstattengeht. Zumal Regisseur Daniel Goldhaber reichlich Webcam-Material in seinen Film einfließen lässt und so auch einen guten narrativen Grund hat, auf den im Horrorgenre noch immer so beliebten Found-Footage-Look zu setzen. Zudem gelingt es Goldhaber, das Leben der Webgirls zu zeigen, ohne dabei allzu plakativ auf die Voyeurs-Schiene abzugleiten. Es sind zwar immer wieder kurze Nacktszenen zu sehen, darüber hinaus hält sich „Cam“ mit dieser Art von Schauwerten aber insgesamt doch sehr zurück. Stattdessen wird versucht, auch hinter die Kulissen des Business zu blicken und vor allem den Konkurrenzdruck zu zeigen, unter dem die Mädchen stehen. Dieser Aspekt des Films ist tatsächlich sehr gut gelungen.
Großes Talent für Horror beweist der Regisseur hingegen nicht. Kaum ein Moment des Films ist wirklich erschreckend oder gruselig. Erst gegen Ende, wenn Alice langsam hinter das Geheimnis ihrer Doppelgängerin zu kommen scheint, zieht Goldhaber die Spannungsschraube zumindest ein wenig härter an, bevor er im Finale eine tatsächlich clevere und überraschende Lösung für das Problem präsentiert. Bis dahin plätschert der Plot aber 80 Minuten lang vor sich hin, in denen der Puls des Zuschauers nie merklich nach oben gehen dürfte. Dazu kommt, dass keine echte Erklärung für die zwischenzeitigen Vorkommnisse geliefert wird. Und das kann ein Horrorfilm sich eigentlich nur erlauben, wenn er stattdessen zumindest eine unheimliche Atmosphäre aufbaut oder exzellente Spannung bietet. Beides ist bei „Cam“ nicht der Fall.
Dabei hätte der Film durchaus mehr Potenzial gehabt. Der Ansatz passt gut in eine Zeit, in der immer häufiger von Identitätsdiebstahl im Internet zu lesen ist. Dazu kommt ein stetig wachsendes Misstrauen, was mit den eigenen Daten im Netzt eigentlich so alles passieren und angestellt werden kann. Doch „Cam“ bleibt in dieser Hinsicht zu sehr an der Oberfläche verhaftet. Statt diese moderne Angst, im Internet buchstäblich nackt zu sein, konsequent zu forcieren, bleibt Alices wahres Leben in der Kleinstadt nur ein Nebenschauplatz. Es geht letztlich nur um einen gestohlenen Account – und der Schluss zeigt, wie leicht das Problem eigentlich zu lösen ist. Für einen Horrorfilm ist das schlicht nicht dramatisch genug.
Fazit: Die Idee wirkt frisch und passt perfekt in unsere Zeit. Aber ein Horrorfilm sollte halt möglichst auch zumindest ein bisschen unheimlich sein. Aber an dieser Stelle überzeugt „Cam“ leider viel zu selten.