Schach in Zeiten der Flüchtlingskrise
Von Jörg BrandesBobby Fischer, Garri Kasparow, Magnus Carlsen – mit den ganz Großen des Schachsports kann sich Fahim Mohammad wohl nicht messen. Er hat auch noch nie einen Weltmeisterschaftskampf bestritten. Gleichwohl hat Schach das Dasein des jungen Mannes, der 2008 als Kind mit seinem Vater aus Bangladesch nach Frankreich flüchtete, entscheidend mitgeprägt. Nachzulesen ist das zum Beispiel in dem Buch „Spiel um dein Leben, Fahim!“, das sein ehemaliger Trainer Xavier Parmentier zusammen mit der Autorin Sophie Le Callennec geschrieben hat. Das wiederum diente dem französischen Schauspieler und Regisseur Pierre François Martin-Laval nun als Vorlage für seinen berührenden Film „Das Wunder von Marsailles“, der stark vom Zusammenspiel seines jungen Hauptdarstellers mit Altstar Gérard Depardieu profitiert.
Wie bei biografischen Dramen nicht unüblich, nahm sich auch Martin-Laval einige erzählerische Freiheiten. Aus Gründen dramaturgischer Straffung flieht Nura (Mizanur Rahaman) mit seinem Sohn Fahim (Assad Ahmed) laut Drehbuch erst 2011, um in Frankreich politisches Asyl zu beantragen. Seine Frau und die übrigen Kinder will er später nachholen. Doch Nura stößt auf größere Schwierigkeiten als erwartet. Zwar bekommt er mit Fahim einen Platz in einer Flüchtlingsunterkunft. Aber er spricht kein Französisch, findet keinen Job – und das Asylverfahren zieht sich. Immerhin bringt er seinen schachbegabten Sohn, der sich die Sprache seines Zufluchtslandes im Gegensatz zu seinem Vater rasch aneignet, schließlich im Pariser Vorort Créteil im Club des bärbeißigen Sylvain Charpentier (Gérard Depardieu) unter, der dort mit Kindern das „Spiel der Könige“ trainiert. Doch während Fahim auf einem guten Weg ist, an der französischen Meisterschaft der unter Zwölfjährigen in Marseille teilzunehmen, droht seinem Vater die Abschiebung...
Auch mit der Ankunft in Paris ist das Ziel noch lange nicht erreicht.
Ein nicht geringes Verdienst des Dramas ist es, dass es auf die Situation, die Probleme und Anpassungsschwierigkeiten von Flüchtlingen in Frankreich hinweist und sie einigermaßen realitätsnah abbildet. So wird etwa die Lage des Vaters zunehmend verzweifelter. Während sein Sohn als minderjähriger Flüchtling einen gewissen Schutz genießt, sieht er sich schließlich gezwungen, in die Illegalität abzutauchen, um der ihm in seinem Heimatland drohenden Gefahr zu entrinnen und Fahim nicht allein zurückzulassen. Freilich geht der Regisseur auch etwas zu leicht darüber hinweg, dass im Falle von Fahim und seinem Vater bei der Entscheidung über eine Aufenthaltserlaubnis letztlich nicht etwa die Schutzbedürftigkeit den Ausschlag gibt, sondern schachsportliche Hochleistungen. Der Freude über den positiven Ausgang des Geschehens, den der deutsche Verleihtitel mehr als nur andeutet (im Original heißt der Film schlicht „Fahim“), tut das jedoch keinen Abbruch.
Als Glücksfall erweist sich das Casting von Assad Ahmed, der hier zum ersten Mal vor einer Kinokamera stand. Wie Fahim ein Flüchtlingskind aus Bangladesch, wirkt er in der Hauptrolle sehr authentisch. Überdies harmoniert er nicht nur gut mit seinem Filmvater, auch das Zusammenspiel mit Gérard Depardieu funktioniert bestens. Der Schauspiel-Veteran gibt den Schachcoach Sylvain, der Fahims echten, aber noch vor Fertigstellung des Kinoprojekts verstorbenen Trainer Xavier Permentier nachempfunden ist, als launischen Brummbären mit einer Allergie gegen Unpünktlichkeit. Aber auch mit einem großen Herz. Das enge Verhältnis zwischen dem kantigen Coach und seinem eigenwilligen Eleven entwickelt sich nach genretypischen Anlaufschwierigkeiten auf angenehm natürliche Weise.
Gérard Depardieu brilliert als bärbeißiger Schachtrainer!
Ebenfalls großes Lob gebührt den durchweg frisch agierenden jungen Laiendarstellern, die sich in Sylvains Unterricht am Schachbrett versuchen und sich mit Fahim anfreunden. Wie auch Sylvains Sekretärin Mathilde, die in Gestalt von Isabelle Nanty viel Warmherzigkeit ins Geschehen bringt. Schade nur, dass Fahims Gegenspieler arg eindimensional gezeichnet sind. Das trübt jedoch kaum den insgesamt positiven Gesamteindruck des Films, den man auch goutieren kann, wenn man nicht weiß, was eine Rochade ist oder bei dem Begriff „Damenopfer“ nicht als erstes an Schach denkt.
Fazit: Pierre François Martin-Laval greift mit seinem „Wunder von Marseille“ die nach wie vor aktuelle Flüchtlingsproblematik auf und erzählt nach einem (recht speziellen) wahren Fall ein märchenhaft angehauchtes Sozialdrama, das überwiegend prima funktioniert und vor allem von seiner tollen Darstellern lebt.