Wer den Film mit schlechten Bewertungen abtut, hat entweder das dahinterstehende Konzept nicht verstanden oder ist mit dem subtilen Schrecken, den der Film vermittelt, schlichtweg überfordert. Denn dieser Film ist nicht weniger als ein Meisterwerk, meisterlich in der Inszenierung und meisterlich in der Umsetzung und nicht zuletzt auch getragen von zwei überragenden schauspielerischen Leistungen!
Der Film hat freilich praktisch keine Handlung, kein Spannungsbogen und vermittelt uns (zumindest wenn man einigermaßen politisch gebildet ist) eigentlich auch nichts, was wir nicht schon vorher wussten. Es ist eben die Art und Weise, wie uns da der Alltag dieser biederen Durchschnittsfamilie präsentiert wird. Mama pflegt ihren Blumengarten, Papa geht zur Arbeit.
Und irgendwie dazwischen, ganz wie selbstverständlich schleichen sich dann Bilder, die einem nicht mehr aus dem Kopf gehen. Und diese Bilder bekommen ihre Bedeutung eben erst dann, wenn man sie in den Kontext mit dem Konzentrationslager setzt - das erfordert natürlich eine gewisse intellektuelle Leistung. Wenn man nicht bereit (oder in der Lage) ist, diese zu erbringen, bleibt der Film „langweilig“, „oberflächlich“ und „sinnfrei“.
Da ist z.B. die Szene, wenn Hedwig sich gemütlich mit Sonnenbrille in ihrer Sonnenliege zurücklehnt, während die Kinder mit anderen Kindern zusammen im Pool planschen, während nebenan, keine 100 Meter weiter, massenhaft Menschen vergast werden. Oder die Szene, als sie ihrer Mutter voller Stolz ihren Garten zeigt, hier das Gemüsebeet, ja und dort die Lagermauer, da kommt noch Efeu hin, dann sieht man die nicht mehr so. Oder der Besuch der Vertreter von Topf und Söhne, die im Wohnzimmer gemütlich bei einer Tasse Kaffee die Vorzüge des neuen Verbrennungsofens preisen, der jetzt besonders rasch wieder für eine neue „Ladung“ bereit ist. Oder der Junge, der im Bett seine Goldzahnsammlung bewundert, oder Schwiegermutter, die nachts plötzlich wach wird, weil es draußen so komisch hell wird, denn der Schornstein des Krematoriums arbeitet wieder und muss den Ruß von hunderten Leichen in die Luft pusten…
Und alles erscheint so normal und so alltäglich, Familie Höß scheint den Wahnsinn nebenan ja schon gar nicht mehr wahrzunehmen, blendet das industrialisierte Massenmorden so konsequent aus, das man sich das gar nicht vorstellen kann. Man möchte rufen: „Das gibt’s doch gar nicht! Das kann so niemals passiert sein! Völlig unrealistisch!“ Und doch ist es genau so passiert! Nicht nur die Höß‘ konnten das so irrsinnig ausblenden, auch hunderttausend andere Menschen konnten das, haben entweder wissend dabei zugesehen oder (wie z.B. die ganzen SS-Leute) selbst dabei mitgemacht. Und das ist doch der eigentliche Wahnsinn an dem Film, das er eben nicht Fiktion sondern Fakt ist…
Aber als wenn das nicht schon reichen würde, kommt dann noch die Tonspur dazu (für die es ja auch einen Oscar gegeben hat), die uns wie eine schonungslose endlose Folter ständig mit subtilen Schreien, Gewehrschüssen, Hundebellen und einem ständigen Wummern des Krematoriums malträtiert. Man kommt nicht daran vorbei und kann es auch nicht überhören, wie es Familie Höß offenbar kann. Da sind dann die in Falschfarben entfremdeten Szenen des Mädchens, das Äpfel für die Gefangenen verteilt oder die Arthouse-mäßigen minutenlangen Ein- und Ausblendungen geradezu erlösend, ansonsten wäre das alles nicht zu ertragen.
Besonders gelungen finde ich noch den Geniestreich am Ende, praktisch die letzte Einstellung. Rudolf Höß steht in einem riesig anmutendenden, verlassenen und dunklen Korridor mit einem wie eine Abwärtsspirale wirkendem Treppenhaus und schaut irgendwie direkt in die Kamera. Dann kommen ein paar Szenen aus dem heutigen Lager Auschwitz I, das jetzt ein Museum ist. Wir sehen die Reinigungsfrauen, wie sie an den riesigen Bergen mit Schuhen und Koffern mit ihrem Staubsauger vorbeigehen, auch das letzte noch erhaltene Krematorium wird gezeigt. Dann wieder Rückblende auf Höß, der irgendwie besorgt zu uns herüberschaut, wie eine Art Foreshadowing: „Ja, so wird man deinen Namen in der Geschichte behalten“, Gänsehaut und Würgereiz gleichzeitig.
Kurzum: Ein Meisterwerk der Filmgeschichte, kein Holocaust-Drama im engeren Sinne, aber ein Film, der zum Nachdenken anregt, den man aber – und das sage ich immer dazu, wenn man mich zu dem Film fragt – vor- und nachbereiten muss, um vollständigen Zugang zu erhalten. Nur mal eben so mit Popcorn am Kinoabend, das funktioniert nicht. Und gerade in unserer heutigen Zeit erinnert er uns auf sehr intensive und eindringliche Art und Weise, wozu Menschen in der Lage sind, anderen Menschen anzutun, wenn man sie nur lässt… Gerade als ich das hier schreibe, erlangt die AfD über 30% in der Landtagswahl in Sachsen und Thüringen und ich denke nur: So hat es damals auch angefangen… Somit ist dieser Film gerade jetzt noch aktueller und wichtiger denn je! Danke Jonathan Glazer, dass du mich auf meine alten Tage noch ein einmal so sehr das Gruseln gelehrt hast, es war notwendig!