Auf Netflix: Eine echte Alternative zum Original!
Von Björn BecherJedes Jahr schauen mehr als 180 Millionen Menschen den Eurovision Song Contest. Dabei machen sich einige über die teils absurden Auftritte von Künstlern aus ganz Europa (und mittlerweile auch Australien) mit viel Spott und Häme lustig. Aber die Mehrheit liebt das Event gerade für diese (durchaus skurrile) Vielfalt. Wie so vieles in diesem Jahr fiel der Gesangswettstreit 2020 allerdings wegen Corona aus – und auch eine von Stefan Raab auf ProSieben organisierte Ersatz-Veranstaltung konnte deutsche Fans nur leidlich trösten.
In der Werbepause der Raab-Alternative gab es dann allerdings ein ziemlich abgedrehtes Musikvideo als Ausblick auf „Eurovision Song Contest: The Story Of Fire Saga“. Wer nach dem kurzen Ersteindruck glaubte, dass sich Regisseur David Dobkin („Die Hochzeits-Crasher“) und sein Star Will Ferrell einfach nur aus amerikanischer Perspektive über das europäische Gaga-Ereignis lustig machen würden, ist allerdings schief gewickelt: Die Netflix-Komödie entpuppt sich in ihrer etwas lang geratenen Laufzeit als mit viel Herz daherkommende Liebeserklärung an das vielleicht inklusivste Musik-Event der Welt – und damit als die wahre Alternative für alle Eurovision-Fans!
Mit einem absurden Musikvideo wurde der Film beworben.
Seit er als kleiner Junge den legendären „Waterloo“-Auftritt von ABBA sah, träumt Lars Erickssong (Will Ferrell) davon, eines Tages selbst den Eurovision Song Contest zu gewinnen. Mehr als 40 Jahre später ist er diesem Traum jedoch kaum nähergekommen. Mit seiner besten Freundin aus Kindertagen, Sigrit Ericksdottir (Rachel McAdams), hat er zwar inzwischen die Band Fire Saga gegründet - aber das Duo wird selbst in seinem kleinen isländischen Heimatdorf nur ausgelacht.
Sehr viele Zufälle und eine ziemlich große Tragödie rund um die eigentlich eingeplante Star-Sängerin Katiana (Demi Lovato) sorgen dafür, dass Fire Saga plötzlich die einzigen Musiker sind, die Island noch zum Eurovision Song Contest schicken darf – und so reisen Lars und Sigrit nach Edingburgh. Dort wird ihre Freundschaft jedoch auf eine harte Probe gestellt: Während die tatsächlich ziemlich talentierte Sigrit vom russischen Top-Favoriten Alexander Lemtov (Dan Stevens) umworben wird, muss der starrköpfige und nur auf den Sieg fokussierte Lars erkennen, dass Freundschaft und womöglich Liebe mit seiner Gesangspartnerin der viel größere Gewinn sind…
Durch die Familie seiner schwedischen Ehefrau Viveca Paulin kam Will Ferrell schon vor gut 20 Jahren in Berührung mit dem Eurovision Song Contest – seitdem schaut er ihn jedes Jahr in ihrer Heimat mit der angeheirateten Verwandtschaft und besuchte auch schon die Show selbst live. Dass der Komiker, der gemeinsam mit „Saturday Night Live“-Autor Andrew Steele auch das Drehbuch schrieb, das Event tatsächlich abgöttisch zu lieben scheint, merkt man auch dem Film an etlichen Stellen an.
Höhepunkt ist in dieser Hinsicht eine ausufernde Musical-Nummer im Rahmen einer Party, die nicht nur mit unglaublich viel Schwung inszeniert ist, sondern auch mit zahlreichen (hier natürlich nicht im Detail enthüllten) Cameos von realen Eurovision-Teilnehmern das Herz jedes Fans erwärmen wird. Zudem zeigen Ferrell und Dobkin allein mit der bunten Gästeschar ganz beiläufig, wie inklusiv der Gesangswettbewerb ist – ein Trend, der sich auch bei der Wahl der fiktiven Teilnehmer fortsetzt.
Die Musik-Einlagen sind erstklassig choreografiert.
Auch wenn von den meisten Auftritten nur kurze Ausschnitte zu sehen sind, gelingt es wunderbar, einen Überblick über diesen so einzigartigen wie absurden Wettbewerb zu liefern: Schließlich konkurrieren hier traditionell Folklore-Darbietungen, maskierte Heavy-Metal-Rocker und Hip-Hopper miteinander. Die Auftritte sind dabei so gefilmt, dass sich bei Fans echtes Eurovision-Feeling einstellen dürfte: Regisseur Dobkin und sein Kameramann Danny Cohen („The King's Speech“) kopieren die reale TV-Show-Inszenierung bis ins Detail perfekt.
Nicht nur die Bühnenauftritte der unter anderem für ihre Super-Bowl-Shows bekannten Choreografen Tabitha und Napoleon D'umo sind großartig gestaltet. Auch in die Musik floss erkennbar jede Menge Liebe: Dem Team aus dem preisgekrönten Komponisten Atli Örvarsson („Killer’s Bodyguard“) sowie zahlreichen renommierten Produzenten und Songschreibern gelingt bei den fiktiven Eurovision-Nummern immer wieder die richtige Mischung aus augenzwinkerndem Humor und tatsächlichem Wow-Effekt. Nehmen wir zum Beispiel den voller Anspielungen steckenden Löwen-Song des russischen Top-Favoriten Lemtov: Der ist zwar teilweise absolut gaga und zum Totlachen, wird aber zugleich in einer Form dargeboten, dass er (wie auch alle anderen Darbietungen) auch in jeder echten Eurovision-Show laufen könnte.
Gerade die Auftritte von Fire Saga meistern den besonderen Spagat besonders überzeugend: Natürlich läuft bei diesen etwas schief, doch die Slapstick-Peinlichkeiten, für die vor allem Lars verantwortlich ist, werden immer wieder gekonnt vom Talent von Sigrit so überspielt, dass der im Verlauf der Handlung einsetzende „Erfolg“ von Fire Saga immer glaubwürdig bleibt. Und das kommt auch nicht von ungefähr: Rachel McAdams wird in den Musical-Nummern von der schwedischen Profi-Sängerin Molly Sandén (und von Reingard Backhaus in der deutschen Fassung) gecovert.
Dennoch bleibt „Eurovision Song Contest: The Story Of Fire Saga“ eine Komödie von und mit Will Ferrell – ganz in der Tradition von „Stiefbrüder“, „Ricky Bobby“ & Co. Da darf dann auch der eine oder andere derbe Scherz nicht fehlen. Nicht alle Zoten finden ihr Ziel, aber es zünden immer noch genug, um das Publikum bei Laune zu halten. Gerade der Running-Gag um die vermeintliche Verwandtschaft von Lars und Sigrit, der von einer Verballhornung isländischer Namen begleitet wird (Erickssong ist kein Schreibfehler von uns), sorgt für einige amüsante Momente.
Bei den Fire-Saga-Auftritten geht natürlich viel schief.
Verantwortlich für das Gelingen sind dabei vor allem die glänzend aufgelegten Darsteller: Neben den beiden Stars im Zentrum ist hier unter anderem Ex-James-Bond Pierce Brosnan zu nennen, der dem extrovertierten Spiel der starken Hauptdarsteller eine minimalistische Performance entgegensetzt, die wie die Faust aufs Auge passt. Der seinen Sohn verachtende Erick Erickssong, von dem angeblich die Hälfte des Dorfes abstammt, hat ein ganz eigenes schroffes Charisma, das die natürlich folgende Versöhnung nur umso emotionaler macht.
Zudem sticht Dan Stevens heraus. Der „Downton Abbey“- und „Die Schöne und das Biest“-Star gibt in seiner Darstellung eines offensichtlich schwulen Sängers, der seine sexuelle Orientierung aber abstreitet (in Russland gibt es schließlich keine Homosexuellen, absolut keine), dem Affen so richtig Zucker. Mit Fake-Akzent hat er sichtlich Freude am exaltierten Spiel – vermeidet es aber bis auf ein paar Ausnahmen, die Figur zu stark ins Lächerliche zu ziehen. Mitunter scheint sogar die Tragik eines Mannes, der ein verstecktes Leben führen muss, durch all den Slapstick hindurch.
Bei allen lobenden Worten darf aber nicht verschwiegen werden, dass auch „Eurovision Song Contest: The Story Of Fire Saga“ seine Schwächen hat. Dabei spielt es für uns eher keine Rolle, dass der Humor vielleicht für einige Eurovision-Fans zu derb sein könnte (da spielen neben schulterzuckend hingenommenen Morden auch mal ein abgerissener Arm eine Rolle). Oder dass mit dem Gesangswettbewerb weniger vertraute Ferrell-Fans viele Cameos, Gags und Ideen gar nicht mitbekommen werden.
Wie oft bei Netflix-Filmen ist aber auch hier die weitreichende kreative Freiheit für die Künstler ein zweischneidiges Schwert. Wir feiern es natürlich, wenn Filmemacher wie Martin Scorsese mit „The Irishman“ oder Spike Lee zuletzt mit „Da 5 Bloods“ starke Projekte doch noch finanziert bekommen, nachdem vorher jedes Hollywood-Studio abgesagt hat. Doch am Ende haben sie fast alle gemein, dass eine stärkere Studio-Hand vielleicht noch einmal zu einem zusätzlichen Nachdenken über den finalen Schnitt geführt hätte. So hätte auch „Eurovision Song Contest: The Story Of Fire Saga“ definitiv nicht über zwei Stunden lang sein müssen.
Ein Highlight: der russische Löwe
Will Ferrell neigt bekanntlich ohnehin dazu, Dialoge sehr in die Länge zu ziehen. Es ist Teil seines Humors, Szenen weiterlaufen zu lassen, obwohl alles gesagt wurde, so auch immer wieder Witz aus dem überflüssigen Herumlavieren insbesondere seiner eigenen Figuren zu ziehen. In seiner neuen Netflix-Komödie gibt es aber immer wieder auch Momente, die zu lange laufen, bei denen ein etwas früherer Schnitt den ganzen Filmen womöglich dynamischer gemacht hätte.
Wenig verwunderlich ist auch die eigentliche Story kaum der Rede wert. Wohin der Hase läuft, ist immer offensichtlich. Eine Nebenhandlung rund um einen TV-Macher (Mikael Persbrandt aus dem Netflix-Hit „Sex Education“), der Angst hat, dass Islands erster Eurovision-Sieg und die damit einhergehende Verantwortung, die Show im folgenden Jahr selbst ausrichten zu müssen, den Sender ruinieren könnte, ist reines Mittel zum Zweck – trotz der vielen Anspielungen auf bekannte finanzielle Mauscheleien in der jüngeren Vergangenheit des Landes im Norden Europas.
Fazit: Will Ferrell liebt den Eurovision Song Contest und zeigt das auch! „Eurovision Song Contest: The Story Of Fire Saga“ ist eine ebenso komische wie herzliche Alternative zum 2020 ausgefallenen Show-Spektakel – inklusive der liebenswürdig-skurrilen Musikdarbietungen.