Das italienische Kino war immer für eine schnelle Ausschlachtung lukrativer Strömungen aus den USA zu haben. Was jenseits des großen Teichs funktionierte, bekam bald einen kleinen schmuddeligen Italo-Ableger an die Seite gestellt, der für wenig Geld gedreht war und meist die Abgründe der Genres bearbeitete, für die sich der große Big-Budget-Mainstream-Bruder zu fein oder zu feige war. Ein beliebtes Zugpferd des italienischen Genre-Kinos war zweifelsohne der sogenannte Poliziottesco, der im Zuge der amerikanischen Erfolgsproduktionen „Der Pate", „Brennpunkt Brooklyn" und „Dirty Harry" aufkam und das die bleihaltigen Crime-Epen um Gangster, Paten, Räuber, und Gendarmen in die ungleich engeren Gassen der italienischen Großstadt verlegte. Einer der wildesten Regisseure war Fernando Di Leo, der sich zuvor als Drehbuchautor für Italo-Western durchgeschlagen hatte und unter anderem am Drehbuch für „Django" beteiligt war. Auf sein Konto geht auch einer der größten und besten Poliziottesco-Klassiker: „Milano Kaliber 9".
Nach einigen Jahren im Zuchthaus ist der einstige Mafiascherge Ugo Piazza (Gastone Moschin) wieder auf freiem Fuß. Doch das Syndikat um den allmächtigen Paten mit dem Spitznamen „der Amerikaner" verdächtigt ihn noch immer, vor seiner Inhaftierung an einem Raub von Mafiageldern beteiligt gewesen zu sein und hetzt ihm den irren Schläger Rocco (Mario Adorf) auf den Hals. Auch die Polizei ist ihm keine große Hilfe, da der ermittelnde Kommissar (Frank Wolff) beschlossen hat, sich aus den Revierkämpfen der Mafia heraus zu halten. Einzig seine Freundin, die exotische Tänzerin Nelly (Barbara Bouchet) und sein alter Waffenbruder Chino (Philippe Leroy) scheinen noch zu ihm zu halten. Als ein mysteriöser Killer jedoch anfängt, das Syndikat des Amerikaners auszudünnen, gerät Ugo erneut unter Verdacht und der Amerikaner und Rocco warten nur darauf, die letzte Rechnung mit Blei zu begleichen.
Mit der Geschmeidigkeit eines Panthers und dem gleichen Biss pirscht „Milano Kaliber 9" durch die Gassen, Hinterhöfe und die schmierigen Hinterzimmer des mafiös verseuchten Mailands. Der Score von Luis E. Bacalov peitscht die Geschehnisse dabei immer wieder voran, verdeutlicht die Getriebenheit aller Beteiligten und macht in seiner panischen Sogkraft auch klar, dass es wohl kaum einem der Beteiligten gelingen wird, sich in diesem Sumpf über Wasser zu halten. Hier sind alle verstrickt, verderbt und verloren. So ist die beherrschende Grundstimmung dann auch eher melancholisch, was jedoch keineswegs bedeutet, dass es sich bei „Milano Kaliber 9" um ein stilles Ganoven-Requiem handelte. Ganz im Gegenteil: Di Leos Gangster-Reißer ist so belebend wie eine Adrenalinspritze mitten ins Herz. Wie tollwütig stürzt sich die entfesselte Kamera Franco Villas ins Getümmel, reißt hektisch hin und her, rückt den Akteuren auf die Pelle und geht in so manchen Actionszenen sogar in die Vertikale, als wolle sie die irre Beweglichkeit eines Kinji Fukasaku imitieren. Räume werden hier nicht betreten, sondern erstürmt, Dialoge nicht geführt sondern in zackigen, von Beleidigungen nur so strotzenden Salven ausgefochten. Wie sein Held Ugo scheint auch der gesamte Film unter Stress zu stehen.
Nahezu einzigartig ist hierbei vor allem die Darstellung von Mario Adorf, der den von der Leine gelassenen Mafia-Schergen Rocco gibt. Als stets wutschnaubender, manisch haareraufender, wie ein feister Kinski mit den Augen rollender, fluchender, prügelnder, prollender und wütender Soziopath reißt er jede Szene an sich und gibt sie nicht wieder her, bis die Klappe fällt. Am Ende wird er einen seiner Feinde wie ein wildes Tier zu Tode schlagen und dabei ein Loblied auf einen früheren Gegner singt. „Du musst den Hut vor ihm ziehen", schreit er den längst toten Widersacher an. Das gleich kann man auch über diesen Film sagen. Hut ab!
Fazit: Im italienischen Crime-Kino der Siebziger gibt es so manche Perle zu entdecken. Der unerreicht dreckige und temporeiche „Milano Kaliber 9" von Fernando Di Leo jedoch ist und bleibt die Krone des Poliziottescos.