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    Die Schneiderin der Träume
    Kritik der FILMSTARTS-Redaktion
    4,0
    stark
    Die Schneiderin der Träume

    Viel besser als sein Titel!

    Von Sidney Schering

    Es wird allmählich müßig, über deutsche Filmtitel internationaler Produktionen zu klagen – und dennoch gibt es immer wieder Fälle, in denen es notwendig ist. Die indisch-französische Produktion „Die Schneiderin der Träume“ ist einer dieser Filme, bei denen sich der deutsche Verleih mit dem lokalen Titel wohl kaum einen Gefallen tut. Gewiss mag es Publikumsgruppen geben, auf die das romantisch-märchenhaft klingende „Die Schneiderin der Träume“ eine größere Anziehungskraft ausübt als der Originaltitel „Sir“. Aber so werden falsche Erwartungen gesetzt: Wer sich von diesem Rosamunde-Pilcher-Haften angezogen fühlt, wird im Spielfilm-Regiedebüt der indischen Drehbuchautorin Rohena Gera nämlich mit einer ausgesprochen unkitschigen Romanze konfrontiert. Gleichermaßen steht zu befürchten, dass all jene, die sich tatsächlich für eine gelungene Auseinandersetzung mit den Kastenunterschieden im heutigen Indien erwärmen können, gar nicht erst auf die Idee kommen, einen Blick auf „Die Schneiderin der Träume“ zu werfen. Und das wäre sehr schade, denn Geras im Rahmen der Filmfestspiele in Cannes uraufgeführter Film ist ein ungeschönt-ehrliches sowie angenehm unaufgeregt erzähltes Romantikdrama und Soziogramm in einem.

    Obwohl Ratna (Tillotama Shome) jung und emsig ist, dürfte sie eigentlich keinem Beruf nachgehen, denn die aus der indischen Provinz stammende Frau ist bereits verwitwet – und Witwen haben der regionalen Sitte nach zu rasten. Ihre sonst streng die örtlichen Bräuche befolgende Familie ist aber froh darum, dass es Ratna in die Metropole Mumbai zieht, denn so gibt es ein Maul weniger zu stopfen. Ratna nimmt eine Stelle als Dienstmädchen bei dem einer wohlhabenden Familie entstammenden Architekten Ashwin (Vivek Gomber) an, obwohl sie eigentlich davon träumt, als Schneiderin und Mode-Designerin tätig zu sein. Ein Traum, der unerreichbar scheint, denn als ungelernte, mittellose Frau vom Land wird sie sich die entsprechende Ausbildung nicht leisten können. Auch Ashwin, den sie stets mit einem ebenso scheuen wie ehrfürchtigen „Sir“ anspricht, ist unzufrieden mit seiner Lebenssituation: Als seine aufwändig geplante Hochzeit platzt, stürzt er in eine tiefe Melancholie. Ashwin, der einige Zeit in den USA verbracht hat, findet lediglich etwas Freude daran, Ratna dabei zu unterstützen, allen Widrigkeiten zum Trotz an ihren Traum zu glauben. So entsteht nach und nach eine Verbindung zwischen den beiden Menschen, die sich nicht den Regeln ihres Umfelds unterwerfen wollen, aber genauso wenig die Fähigkeit haben, sich über diese Erwartungen hinwegzusetzen...

    Man merkt dem Film jederzeit an, dass sich Rohena Gera schon länger und sehr ernsthaft mit der vertrackten Liebeswelt Indiens auseinandergesetzt hat. In ihrer Dokumentation „What's Love Got To Do With It?“ stellt Gera etwa acht Menschen aus ihrem Heimatland vor, für die eine Heirat arrangiert wurde und die auf sehr unterschiedliche Weise mit den gesellschaftlichen Erwartungen an ihre Klasse, ihre Kaste und ihrem Geschlecht umgehen. „Die Schneiderin der Träume“ ist nun das zwar fiktionale, aber deshalb nicht minder präzise beobachtete Ergänzungsstück zu dieser Dokumentation. Gera schildert die Annäherung zwischen Ratna und Ashwin mit dokumentarischer Kleinschrittigkeit und setzt bevorzugt auf lange, ruhige, oftmals sogar statische Kameraeinstellungen, in denen sie und ihr Kameramann Dominique Colin („Und wenn wir alle zusammenziehen?“) den Blick des Publikums hauptsächlich durch die Schärfeeinstellung lenken.

    Konsequenterweise sind es dabei die Details, die in „Die Schneiderin der Träume“ Bände sprechen. Gera vertraut auf die Aufmerksamkeitsspanne des Publikums, statt es mit der Nase auf relevante Feinheiten zu stoßen. Während Ratnas erster Busfahrt nach Mumbai sehen wir sie aus dem Fenster blicken und ganz nebenher ein paar Armreifen überstreifen – erst viele Filmminuten später wird die Signifikanz dessen deutlich, wenn sie in einem Gespräch beiläufig erklärt, dass es Witwen auf dem Land nicht gestattet ist, Armreifen zu tragen. So skizziert Gera gleichzeitig auf angenehm subtile Weise ihre Hauptfigur (Ratna überschreitet Gepflogenheiten, aber nur, wenn sie nicht erwischt zu werden droht) und das heutige Indien, das sich zwar teils an westliche Vorstellungen anpasst hat, aber teils auch noch alten Traditionen nachhängt. Die Autorenfilmerin lässt dabei ein komplexes Bild indischer Gepflogenheiten entstehen: Gera macht nicht nur greifbar, wie Ratna und Ashwir durch Traditionen von ihren Wünschen ferngehalten werden, sie unterstreicht ebenso, dass es wertfreie und positive Unterschiede zwischen indischen Gegebenheiten und westlichen Vorstellungen gibt. So sind bezeichnenderweise nicht etwa traditionell erzogene Mitmenschen die größten Peiniger Ratnas, sondern eine zickige, sich westlich gebende Bekannte Ashwirs sowie die gallige Mitarbeiterin eines auf „westlich“ getrimmten Modegeschäfts.

    Gera treibt ihre Erzählung vornehmlich mit beispielhaften Impressionen voran, statt einfach nur von Handlungswendung zu Handlungswendung zu hetzen. Davon profitiert auch die behutsam entstehende Anziehung zwischen Ratna und Ashwir ungemein: „Die Schneiderin der Träume“ kommt weitestgehend ohne überhöhte, weltfremde Filmklischees aus, sondern fängt eine sich verstohlen entwickelnde Romanze so ein, wie sie oftmals geschieht – so langsam, dass es selbst den beiden Beteiligten erst spät bewusst wird, was sie da eigentlich fühlen. Die Dialoge sind deswegen, wenn sie nicht gerade zwischen den Zeilen Eindrücke der indischen Gesellschaftsschichten vermitteln, auf authentische Weise banal gehalten: Ratna gibt keine plötzliche, eloquente Herzschmerz-Liebeserklärung und Ashwir wirft nicht mit Luxusartikeln um sich, während er mit Poesie versucht, das Herz seiner Haushälterin zu gewinnen. Das höchste der Gefühle sind lange Zeit verstohlene Blicke und ein verschenktes Arbeitsutensil.

    Dank des großartigen Darstellerduos im Zentrum dieses Films sind auch diese kleinen Gesten sehr berührend: Allein schon, wie sich Tillotama Shomes Körperhaltung verändert, sobald Ratna eine Schwäche für ihren Arbeitgeber entwickelt, steckt voller Aussagekraft. Ganz davon zu schweigen, wie sie damit kämpft, weiterhin eine distanziert-unterwürfige Stimmfarbe beizubehalten, wenn sie sich wieder einmal den Originalfilmtitel „Sir“ abringt. Ähnliches gilt für Vivek Gomber: Er legt Ashwir von Beginn an als sympathischen, recht progressiven Mann an, der sich zwar den Luxus einer Bediensteten gefallen lässt, doch ihn nicht als Selbstverständlichkeit ansieht. Anfangs noch von seiner gescheiterten Verlobung geknickt wie ein Teenager, mit betrübtem Gesicht und sich in seinem Zimmer verkriechend, taut er sukzessive auf – nur um sich dann künstlich zurückzuhalten und freundliche Blicke und kollegiale Gesten sichtbar zu bedecken. Denn nicht nur Ratna hat gesellschaftliche Sanktionen zu befürchten, auch er könnte durch eine Beziehung zu seinem Hausmädchen an Ansehen verlieren. Ganz davon zu schweigen, dass er ihr nicht schaden möchte...

    Während Pierre Aviats süßliche Filmmusik das so zurückgehalten inszenierte Geschehen mitunter überdramatisiert, gelingt es Gera und Colin, dem bunten Treiben in den indischen Straßen eine ebenso beengende Wirkung abzuringen wie Ashmirs Apartment, das in seinen grau-braun-gläsernen Tönen lieb- und leblos daherkommt. Da sich die Geschichte vornehmlich in diesen kühlen Räumen abspielt, fehlt den Bildern von „Die Schneiderin der Träume“ zwar zwischenzeitlich das leinwandfüllende Format, allerdings unterstreicht die Regisseurin so auch ganz behände das Gefühl des Gefangenseins, das ihre Protagonisten mit sich herumschleppen.

    Fazit: Ein feinfühlig-zurückhaltende, aber deshalb nicht minder berührende Liebesgeschichte, die zugleich auch eine ganze Menge über die heutigen Verhältnisse in Indien zu sagen hat.

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