Die italienische Antwort auf "X-Men" & "Fantastic Four"
Von Christoph PetersenNach seinem in Fankreisen viel beachteten Indie-Hit „Sie nannten ihn Jeeg Robot“, in dem ein frischgebackener Superheld den Avancen der Mafia widerstehen muss, hat Gabriele Mainetti diesmal deutlich mehr Mittel zur Verfügung, um mit seinem – wieder sehr italienischen - Mutanten-Abenteuer „Freaks Out“ der übermächtigen US-Konkurrenz von Marvel und DC etwas entgegenzusetzen. Dabei trügt der anfängliche Eindruck, Mainetti würde diesmal auf die allzu düsteren Seiten von „Sie nannten ihn Jeeg Robot“ pfeifen und stattdessen einen harmloseren Superhelden-Blockbuster für die ganze Familie abliefern, allerdings ganz gewaltig.
Klar, wenn wir zu Beginn minutenlang zusehen, wie die elektrisch aufgeladene Matilde (Aurora Giovinazzo) mit der Zunge Glühbirnen zum Leuchten bringt, der wie ein Wolf beharrte Fulvio (Claudio Santamaria) übermenschliche Kraftakte vollbringt, der Albino Cencio (Pietro Castellitto) nur mit seiner Willenskraft Insektenhorden befehligt und der magnetische Mario (Giancarlo Martini) sich das Silberbesteck an den ganzen Körper klebt, dann erinnert die historische Freak Show zunächst doch sehr an den magischen Realismus von etwa Matteo Garrones „Pinocchio“. Aber mit der Kinderfreundlichkeit hat es sich nach dem kurz darauf folgenden Weltkriegs-Bombenhagel auch schon wieder erledigt.
Nachdem die Nazis ihren jüdischen Direktor verschleppt haben, müssen sich die vier "Freaks" eine neue Beschäftigung suchen.
Dann nämlich ist das Zirkuszelt zerstört und der jüdische Maestro Israel (Giorgio Tirabassi), der eigentlich für die ganze Truppe eine Überfahrt nach Amerika organisieren wollte, wird von den Nazis in Richtung KZ verschleppt. Während Matilde ihn zu retten versucht und sich dazu einer im Wald versteckten Partisanentruppe anschließt, will das übrige Trio sein Glück beim Feind versuchen. Der pompöse Zirkus Berlin, dessen Eingangstor ein weit aufgerissenes Maul eines gewaltigen Graffitis von Adolf Hitler ist, sucht nach neuen Artisten.
Allerdings verfolgt Zirkuschef Franz (Franz Rogowski) in Wahrheit ganz andere Absichten: Der mit zwölf Fingern geborene Meisterpianist hat immer wieder Visionen aus der Zukunft – und hat dort unter anderem auch gesehen, dass Adolf Hitler und seine Nazis den Krieg verlieren werden. Nur ein vierköpfiges Mutanten-Team könnte den Verlauf der Geschichte noch herumreißen. Seitdem lässt Franz immer mehr „Freaks“ heranschaffen, deren speziellen Fähigkeiten er dann solch harschen Tests unterzieht, dass die meisten von ihnen die Tortur nicht lange überleben…
Noch im ersten Drittel des Films steht der kleingewachsene Magnetmann Mario mit dem Rücken zur Kamera am Rande eines Feldes – und macht dabei eine eindeutig zweideutige Armbewegung. Als Zuschauer denkt man sich: Hm, die Einstellung ist aber merkwürdig gewählt, das sieht ja fast so aus, als ob er sich da gerade am helllichten Tag vor allen anderen einen runterholt. Später stellt man dann allerdings fest: Doch, das tut er tatsächlich! Immer mal wieder dreht er sich zur Wand und fängt mit Onanieren an – und als er von Franz nackt an eine sich drehende Scheibe gefesselt wird, erweckt es fast den Eindruck, als würde sich sein ganzer kleiner Körper um seinen stets senkrecht nach unten hängenden, offensichtlich per CGI auf stolze Größe gebrachten Penis drehen.
Für eine italienische Produktion spielt „Freaks Out“ locker in den Budgetregionen eines Blockbusters – und trotzdem erlaubt sich der selbst für das Drehbuch verantwortlich zeichnende Gabriele Mainetti immer wieder solche den Mainstream-Rahmen aufsprengenden Eigenheiten. Auf der anderen Seite gibt es dann wiederum auch ganz zärtliche, vielleicht sogar an der Grenze zum Kitsch kratzende Momente, wenn sich die Protagonisten etwa bei ihrer Flucht vor den Nazischergen von einer Clownskanone einmal quer über den nächtlichen Sternenhimmel schießen lassen. Und in Sachen Action schwankt „Freaks Out“ zwischen typischen Comic-Bildern, wenn Matilde den Nazihorden Energiebälle entgegenschleudert, und Schießereien mit minimalen Gore-Einschlag, die man so eigentlich eher in einem klassischen Kriegsfilm vermuten würde.
Das Prunkstück von „Freaks Out“ bleibt aber der Antagonist. Franz ist zwar schon irgendwie der typische größenwahnsinnige Comic-Bösewicht – aber Franz Rogowski („Undine“), der aktuell vermutlich angesagteste deutsche Arthouse-Star, verkörpert ihn mit einer geradezu verstörenden Intimität. Zudem ist es einfach clever gelöst, wie der Film von seinen Zukunftsvisionen erzählt, ohne immer alles auserklären zu müssen.
So liegen überall in seinem Zimmer anachronistische Zeichnungen herum, auf denen etwa ein Playstation-Controller, Fidget-Spinner und moderne Mobiltelefone zu sehen sind – und wenn er seine Pianokonzerte gibt, für die die Nazioberen von weit her anreisen, dann spielt er nicht etwa Bach oder Beethoven, sondern „Creep“ der erst 40 Jahre später in Oxford gegründeten Band Radiohead…
Fazit: Ein italienischer Superhelden-Blockbuster mit mehr als genug Absonderlichkeiten, um sich auf interessante Weise von der deutlich höherbudgetierten US-Konkurrenz abzusetzen.
Wir haben „Freaks Out“ beim Filmfestival in Venedig gesehen, wo er als Teil des offiziellen Wettbewerbs gezeigt wurde.